Schwerpunkte 05. April 2022

Menschenrechte und Meinungsfreiheit in Äthiopien

Viele Menschen stehen in einer Schlange und warten. Die meisten von ihnen haben blaue OP-Masken auf und weiße, leichte Stofftücher über Kopf und Schultern.

Äthiopische Regierungen machten sich über Jahrzehnte massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig, besonders im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit. Journalist_innen wurden systematisch eingeschüchtert, bedroht und mithilfe eines strengen Anti-Terrorismus-Gesetzes verfolgt. Auch wurde das Internet, vor allem ab 2015, regelmäßig abgeschaltet, um Berichterstattung zu erschweren. Über Jahre berichtete Amnesty International regelmäßig über Folterpraktiken in äthiopischen Gefängnissen, Polizeistationen und Militäreinrichtungen. Politisch motivierte willkürliche Verhaftungen waren an der Tagesordnung, wobei zehntausende Menschen teilweise jahrelang festgehalten wurden. Seit 2006 war UN-Mitarbeiter_innen, die über die Menschenrechtslage berichten wollten, die Einreise in das Land verwehrt. Auch Amnesty International wurde die Einreise nicht erlaubt.

Nach der Amtsübernahme durch Abiy Ahmed 2018 gab es zunächst einige Fortschritte: Tausende politische Gefangene wurden freigelassen, Oppositionspolitiker_innen kehrten aus dem Exil zurück und konnten ihre politische Arbeit ausführen. Hunderte Internetseiten wurden entsperrt und zahlreiche Medien zugelassen. Auch im Bereich der Justiz gab es Verbesserungen: Offiziell wurde von Folter in äthiopischen Gefängnissen abgesehen und das berüchtigte politische Gefängnis Maikelawi geschlossen. UN-Mitarbeiter_innen durften zunächst wieder einreisen und Beschränkungen für die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wurden aufgehoben. Unabhängige Arbeit zu Menschenrechten wurde wieder möglich.

Im Januar 2020 verabschiedete die Regierung ein neues Antiterrorgesetz, welches das alte umstrittene Antiterrorgesetz ersetzen sollte. Es enthielt zwar Bestimmungen, mit denen die Rechte derjenigen, die wegen vermeintlicher Terrorakte inhaftiert oder strafrechtlich verfolgt wurden, stärker geschützt waren, aber auch Vorschriften, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten. Das Gesetz gegen Hassrede und Falschinformation kann missbraucht werden, um Personen unter Strafe zu stellen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen. Außerdem verpflichtet das Gesetz soziale Mediendienste zur Überwachung und Entfernung von Inhalten, also zur Zensur. Amnesty befürchtet, dass damit auch legitime Regierungskritik eingeschränkt oder verboten werden könnte.

 

Menschenrechte zwischen den Fronten: Der Tigray-Konflikt

2020 verschob die äthiopische Zentralregierung die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit. Die Regionalregierung in Tigray führte entgegen des nationalen Beschlusses dennoch bereits am 9. September 2020 Wahlen in Tigray durch, die von der äthiopischen Zentralregierung für rechtswidrig erklärt wurden. Die wachsenden Spannungen zwischen der Regionalregierung der Region Tigray und der äthiopischen Zentralregierung spitzten sich zu. Nach Beschuss des Militärlagers in Mekele durch die TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) begann die Regierung am 4. November 2020 eine Militäroffensive gegen die TPLF und verbündete Gruppen in Tigray.

Die Region in Nordäthiopien befindet sich seither in einem bewaffneten Konflikt, der sich zwischenzeitlich auf immer mehr Teile Äthiopiens ausgeweitet hatte. Die Regierung von Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed reagiert mit massiven Repressionen und Gewalt im ganzen Land. So nimmt die Polizei seit Anfang 2021 landesweit willkürlich Menschen fest, die aus Tigray kommen, zu Menschenrechtsverletzungen arbeiten oder über den Konflikt berichten. Die Region Tigray selbst ist seit Monaten von der Außenwelt abgeschnitten. Journalist_innen, die UN und Menschenrechtler_innen dürfen nicht einreisen.

Bereits seit Beginn des bewaffneten Konflikts im November 2020 beobachtet Amnesty International, dass alle Konfliktparteien für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, einschließlich außergerichtlichen Hinrichtungen und sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Diese stellen nach Bewertung von Amnesty International Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Kriegsverbrechen und in einigen Fällen möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, mehreren Millionen Menschen in Tigray und angrenzenden Regionen wird die humanitäre Hilfe verweigert. Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Gruppen forderten nach Amnesty-Informationen mindestens 1.500 Menschenleben.

Amnesty International hat zudem einen deutlichen Anstieg an Posts in den sozialen Medien festgestellt, in denen zu Gewalt gegen Tigrayer_innen aufgerufen wird und diese verunglimpft werden. Einige dieser Posts bleiben trotz des hetzerischen Inhaltes unkontrolliert. Laut der Analyse einer lokalen Menschenrechtsorganisation gehörten einflussreiche Personen wie Journalist_innen und Politiker_innen zu denjenigen, die diese Beiträge teilten. So rief Premierminister Abiy Ahmed in einem Facebook-Post zu Waffengewalt auf.

Der von November 2021 bis Februar 2022 erlassene Ausnahmezustand erlaubte es den Behörden, Personen ohne Haftbefehl zu verhaften, sie ohne gerichtliche Überprüfung festzuhalten und die Lizenzen von NGOs und Medien auszusetzen oder sie ihnen zu entziehen. Die Notstandsverfügung erlaubte außerdem das Verbot jeglicher Form der Meinungsäußerung, die sich gegen die "Durchführung des Notstands und den Zweck der Verordnung" richtet, und stellte die Unabhängigkeit der Justiz infrage.

Wie sich die Aufhebung des Ausnahmezustands auf die Menschenrechtslage und die Meinungsfreiheit auswirken wird, bleibt abzuwarten. Anfang April 2022 befinden sich während des Ausnahmezustandes verhaftete Menschen nach wie vor in Gefangenschaft.

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