Aktuell Blog Griechenland 27. März 2020

Lesbos – Ein rechtsfreier Raum am Rande Europas

Personen blicken von der Kamera weg und halten ein weißes Banner hoch, auf dem steht: "Moria is a Prison for Refugees. Being refugee is not a crime."

Geflüchtete demonstrieren auf der griechischen Insel Lesbos im Februar 2020

Bis vor einer Woche war ich noch als Freiwillige auf Lesbos. Verrückt, hier in Quarantäne in Deutschland habe ich das Gefühl, dass nicht wirklich etwas passiert. Auf Lesbos bin ich jeden Tag aufgewacht und hörte, dass etwas anderes Unerwartetes geschehen war: An einem Tag waren die Grenzen zur Türkei nach vier Jahren plötzlich offen, an einem anderen Tag brannte erneut ein Flüchtlingscamp. Oder die Faschist*innen demonstrierten ihre Macht auf der Insel, indem sie am Hafen ein ankommendes Boot daran hinderten, an Land zu gelangen, oder erneut Geflüchtete und Freiwillige angriffen. 

Seit ungefähr eineinhalb Monaten steigt die Anspannung auf Lesbos konstant. Es scheint, dass die Faschist*innen immer mehr die Kontrolle über die Insel übernehmen. Wir befinden uns tatsächlich wieder an einem Punkt in der Geschichte, an dem Flüchtlingscamps angezündet werden!

Als uns die Nachricht erreichte, dass das Camp Stage 2 im Norden der Insel in Flammen steht, lief es mir kalt den Rücken herunter. Dieses Transitlager war die erste Station für ankommende Geflüchtete, danach wurden sie auf die anderen Camps verteilt. Stage 2 wurde am 31. Januar 2020 geschlossen und am Tag des Brands lebten dort zum Glück keine Menschen mehr. Trotzdem konnten wir es einfach nicht fassen. Uns wurde bewusst, dass damit ein nächstes Level von Gewalt erreicht war. 

Ich arbeitete als Freiwillige in Pikpa, ein unabhängiges offenes Camp auf Lesbos, das 2012 von drei Griechinnen gegründet wurde. Dort wohnen nur ca. 100 Menschen: Familien und Einzelpersonen, die gesundheitliche Probleme und besonders schwerwiegende psychische Traumata haben.

Während Stage 2 in Flammen stand, hörten wir, dass auf dem Weg Richtung Pikpa eine Straßenblockade von sogenannten "besorgten Bürger*innen" errichtet wurde. Meine Kolleg*innen und ich sind direkt zum Camp gefahren. Wir wollten im Fall der Fälle vor Ort sein. Die Angst, dass die Faschist*innen Pikpa angreifen, erschien nicht ganz unberechtigt: Wir sahen nur 100 Meter vom Camp entfernt eine große Gruppe von schwarz gekleideten Menschen mit ihren Motorrädern und befürchteten, dass es sich bei ihnen um Faschist*innen handelte. Aus Angst und um kein Risiko einzugehen, haben wir die Polizei gerufen und sie gebeten, Streife zu fahren. Doch die Polizei tauchte niemals auf. Daran lässt sich erkennen, wie wenig man sich noch auf rechtsstaatliche Institutionen wie die Polizei auf Lesbos verlassen kann. Diese ist offensichtlich noch tiefer in faschistische Strukturen eingebunden, als wir es bereits angenommen hatten.

Eine bunt bemalter Container-Wand vor Bäumen, auf der steht: "No more war"

Ein bemalter Container im Flüchtlingscamp Pikpa auf Lesbos

 

Eine Woche später erreichte uns während einer Nachtschicht die Nachricht, dass das Tageszentrum One Happy Family auch in Brand gesetzt worden war. One Happy Family war das größte Gemeinschaftszentrum auf Lesbos. Es wurde für und mit Geflüchteten betrieben und war Krankenstation, Fitnessstudio, Schule, Werkstatt und Frauenzentrum zugleich. Zudem erhielten Geflüchtete dort einmal pro Tag eine kostenlose Mahlzeit.

Und wieder saßen wir dort nachts zu siebt im Camp und machten uns vor Angst halb in die Hosen. Es schien zur Normalität geworden zu sein, dass wir als freiwillige Helfer*innen ohne Vorkenntnisse eine Art Security-Team für unser Camp bilden mussten. Wir fühlten uns in der Situation machtlos und waren trotz eines spontan erstellten Notfallplans mit dem Gedanken eines potenziellen Angriffs überfordert. Unsere Koordinatorin fasste die Situation so zusammen: "Wir können bei einem Angriff nicht viel machen, sind aber hier, um in Solidarität mit den Bewohner*innen des Camps zu stehen."

Mein Misstrauen gegenüber der griechischen Polizei bestätigte sich einige Tage später erneut, als ich mich mit zwei Freundinnen am Fährhafen aufhielt. Seit mehreren Tagen ging das falsche Gerücht herum, dass Geflüchtete umsonst mit der Fähre nach Athen fahren dürften. Daraufhin haben sich viele am Hafen mit ihrem Gepäck versammelt, um die Reise anzutreten. Wir beobachteten, wie ein Polizist den Familienvater einer afghanischen Familie zu Boden stieß und ihm ins Gesicht schrie, dass er verschwinden solle.

Wir konfrontierten den Polizisten damit, dass dies kein Grund sei, gewalttätig zu werden. Seine Antwort: "Fuck you" und "Go back to your country". Meine Freundin fragte ihn, ob das nun der Weg sei, wie man mit Menschen redete. Daraufhin wurde er direkt handgreiflich. Er schrie uns an: "There is no law anymore!" 

Die Situation spitze sich weiter zu. Ein Polizist schlug sogar meiner Freundin mit seinem Knüppel auf das Knie. Offensichtlich wollte die Polizei nicht, dass ihnen Menschen dabei zusahen, wie sie Geflüchtete vom Hafen wegdrängen, sie anschreien und ihnen mit Gewalt drohen. Ich werde nie das Bild vergessen, wie ein Polizist mit gehässigem Grinsen im Gesicht seinen Knüppel rausholt und damit aggressiv auf sein Schild einschlägt. Es kam mir vor wie bei einer Hetzjagd.

Meine Freundinnen und ich haben solch eine Situation nur einmal erlebt. Die Geflüchteten hier sind dieser Polizeigewalt jeden Tag ausgesetzt.

Hinter einem Zaun stehen Zelte und behelfsmäßige Behausungen

Zelte im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos (Februar 2020)

 

"There is no law anymore" – genau so fühlt es sich auch an. In jeder Hinsicht. Wir befinden uns an einem Punkt an dem Rechtsradikale, Faschist*innen, "besorgte Bürger*innen" und auch Polizist*innen die Kontrolle über die Inseln übernehmen und für Rechtsbrüche keine Folgen fürchten müssen. Wir befinden uns hier in einem Ausnahmezustand und die Welt schaut weg. Das Europäische Recht ist ausgesetzt. Wie kann es sein, dass das Grundrecht auf Asyl, das im Europäischen Recht und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist, für einen Monat ausgesetzt wird? Wie ist es möglich, dass die Europäische Union lieber Geld in Grenzschutz – in einen Schutz vor schutzbedürftigen Menschen statt für sie – investiert? Wo bleibt die humanitäre Versorgung und die Evakuierung der Geflüchteten aus den Lagern der der fünf griechischen Inseln, die als Bollwerk Europas dienen? 

Ich bin fassungslos, entsetzt, wütend und gleichzeitig zutiefst beunruhigt.

Wo sind nur die sogenannten "Europäischen Werte"?

Aktuell macht sich die große Sorge vor dem Corona-Virus auch auf Lesbos und in den Flüchtlingscamps breit. Ich kann mich kurzerhand in einen Flieger zurück nach Deutschland setzen, wo eine ausreichende gesundheitliche Versorgung gewährleistet ist. Währenddessen harren die Menschen in Camp Moria und den anderen Lagern der griechischen Inseln voller Angst und Sorge vor einer Ausbreitung des Virus aus. 

Eins ist sicher: Wenn Corona Moria erreicht, wird alles in einem riesigen Desaster enden. Liebe Europäische Union, du Friedensnobelpreisträgerin, ist es nicht schon längst überfällig, und in der jetzigen Situation mehr als notwendig, die Menschen aus Moria zu evakuieren?

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