Amnesty Journal Ukraine 16. Februar 2024

Der Kanarienvogel im Schutt

Menschen stehen dicht an dicht auf einer Treppe, die aus einem Bahnhof nach oben führt.

Der ukrainische Schriftsteller Ostap Slyvynsky hilft in Lwiw Geflüchteten aus der Ostukraine. In einem Buch versammelt er ihre Alltagserfahrungen.

Von Tanja Dückers

Ostap Slyvynsky, Jahrgang 1978, sieht ein bisschen aus wie John Lennon, mit seinem schmalen Gesicht, den sensiblen Zügen, der Brille. Dazu kommt sein Witz, sein Sarkasmus, der Scharfsinn. Der Lyriker, Literaturwissenschaftler und Übersetzer (unter anderem der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk) aus Lwiw sitzt gerade in Nottingham in einem Hotel, wir sprechen per Zoom miteinander. Er durfte jetzt schon mehrere Male aus der Ukraine ausreisen, erzählt er. Vor einem Jahr wurde das wehrfähigen Männern unter 60 wie ihm noch nicht gestattet. Aber er gehe selbstverständlich zurück, habe sich sogar auf eine Warteliste als Soldat eintragen lassen, wie eigentlich alle – alle linken Pazifisten wie er, die aber auf keinen Fall unter russischer Okkupation enden wollen.

"Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs"

Über Putins Russland hat sich Slyvynsky noch nie Illusionen gemacht. Seit 2014 verfolgt er die Gräuel im Osten des Landes und auch anderswo auf der Welt: 2016 gehörte er zu den Unterzeichnern des Aufrufs "Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!" des Internationalen Literaturfestivals Berlin, der sich gegen den "Bombenkrieg des russischen Präsidenten Putin in der syrischen Stadt Aleppo" wandte. Man kann sich diesen zarten Büchermenschen mit seiner Doktorarbeit über das Phänomen der Stille in der Literatur am Beispiel bulgarischer Prosa der 1960er bis 1990er schlecht an der Front vorstellen. Nicht ohne Ironie sagt er: "Neulich habe ich ein zweiwöchiges Training zum Soldaten absolviert." Aber erst einmal ist Slyvynsky mit Reisen beschäftigt. Sein neues Buch "Wörter im Krieg" wurde in mehrere Sprachen übersetzt, unter anderem ins Deutsche. Der Autor ist gefragt, bald erscheint sein Werk auch auf Georgisch und auf Japanisch.

"Wörter im Krieg" ist ein besonderes Buch. Als der Krieg am 24. Februar 2022 ausbrach, hatte der Schriftsteller das Gefühl, nicht einfach das nächste Buch schreiben zu können. Slyvynskys Leben stand auf dem Kopf, wie das so vieler seiner Landsleute. Täglich fuhr er in seiner Heimatstadt Lwiw zum zentralen Bahnhof, der voller Menschen war, die aus der Ostukraine in den Westteil des Landes ­kamen und zum Teil von dort weiter ins Ausland flüchteten. Er schloss sich freiwilligen Helfer*innen an, reichte Kaffee und Brötchen, half Menschen, in Zelten unterzukommen. Und er redete mit den Geflüchteten.

Sehnsucht nach etwas Schönem

"Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, den ich gehört habe", sagt Slyvynsky. "Auf dem Bahnhof, wo wir den Menschen Brot und Tee gegeben haben, in den Notunterkünften, in die ich Medikamente und andere Dinge gebracht habe, wo ich Wache gehalten habe und weiter nachts Wache halten werde, ja sogar bei den Ständen, an denen Kaffee ausgegeben wird, beginnen die Menschen zu erzählen. Manchmal von selbst, manchmal muss man sie ein wenig antippen, eine Frage stellen, und schon kommt ein Redeschwall in Bewegung, der kaum zu stoppen ist."

Das, was ihm, oft in wirrer Form und unzusammenhängend, erzählt wurde, hat Slyvynsky zu kleinen Berichten und Miniaturen verdichtet und alphabetisch geordnet, von A wie Abschied bis Z wie Zähne oder Zimmer. Der Name und die Herkunft der Person, der er den Bericht zu verdanken hat, stehen über jedem Beitrag. So ist ein vielstimmiges Porträt des Kriegs in der Ukraine entstanden. Slyvynsky geht es dabei nicht um besonders brutale, spektakuläre Geschichten. Er hat es nicht nötig, um Aufmerksamkeit zu heischen. Oft sind es die alltäglichen Begebenheiten aus einem eben nicht mehr alltäglichen Leben, die besonders berühren. Zum Beispiel die vom Kanarienvogel.

Als wir Irpin verließen, wurde es irgendwann ganz still. Wir kamen an einem Haus vorbei, das von Geschossen getroffen worden war. Alle Fenster waren kaputt, der Eingang verschüttet. Plötzlich hörte ich in einer der Wohnungen einen Kanarienvogel singen. Ich hatte meine ganze Kindheit lang einen Kanarienvogel und ich kenne den Klang sehr gut. Vielleicht waren die Besitzer in den Luftschutzraum geflüchtet und konnten nicht zurückkehren. So viel ist davor und danach passiert, aber den Kanarienvogel kann ich nicht vergessen.

"Kanarienvogel"
Olga (Irpin)

Manchmal hat der Krieg auch komische Seiten. So hat ein junger Mann aus Butscha zu Papier gegeben:

 

Bei heftigem Beschuss ist es nicht ratsam zu duschen. Es ist absolut kein Genuss. Ständig quält dich der Gedanke: Wenn wir jetzt getroffen werden, bin ich ein Kriegsopfer mit eingeseiftem Po.

"Dusche"
Olexandr (Butscha)

Inspiriert wurde Ostap Slyvynsky von Czesław Miłosz, dem großen polnischen Dichter und Nobelpreisträger. Dieser schrieb 1943 im von den Nazis okkupierten Warschau einen Gedichtzyklus mit dem Titel "Welt". Die meisten dieser Gedichte sind Erklärungen einfacher Worte wie "Gartentor", "Anbau", "Straße". Miłosz interessierte, wie sich die Bedeutung alltäglicher Worte im Krieg veränderte. Was eben noch eine Straße war, die man auf dem Weg zur Arbeit nimmt, ist morgen ein angstbesetzter Ort.

Ostap Slyvynsky organisiert auch Kulturveranstaltungen in Lwiw. Aber, so erzählt er, es dürfen keine großen Feste und Events stattfinden, denn die könnten die Aufmerksamkeit der russischen Armee auf sich ziehen. Überall fliegen Drohnen. Daher finden nur kleinere kulturelle ­Happenings statt, immer unter der Voraussetzung, dass es in der Nähe einen Luftschutzbunker gibt, in dem alle geladenen Gäste im Zweifelsfall Platz finden können.

Ein Mann mit Brille sitzt in einem Retro-Ambiente in einem gepolsterten Sessel.

"Unsere Kulturveranstaltungen sind enorm beliebt", sagt Slyvynsky. Die Leute sehnten sich im Krieg auch nach etwas Schönem und Interessantem, nach Reflektion und gemeinsamem Nachdenken. Der Literat wirkt energetisch, wie schon vor einem Jahr, als wir uns zum ersten Mal per Zoom über die Situation der Kulturschaffenden in seinem Land austauschten. Anderthalb Jahre Krieg haben bei ihm den Widerstandswillen und die Fantasie nicht erlahmen lassen. Derzeit arbeitet er an einem neuen Projekt: "Dinge im Krieg". Er bittet Menschen, ein Objekt, das ihnen besonders wichtig ist, das sie zum Beispiel auf die Flucht mitnehmen konnten, zu zeigen. Die Fotos der Personen mit ihrem ausgewählten Gegenstand und Kurztexten hierzu sollen in einer Ausstellung präsentiert werden.

Aber jetzt muss Ostap Slyvynsky erst einmal in Nottingham an einem Literaturfestival teilnehmen. "Das sind schon seltsame Parallelwelten, in denen ich mich derzeit bewege", sagt er. "Aber ich finde es wichtig, dass ich hier bin, damit die Welt die Ukraine nicht vergisst."

Tanja Dückers ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Ostap Slyvynsky: Wörter im Krieg, übersetzt von Maria Weissenböck, edition.fotoTAPETA, Berlin 2023. 112 Seiten, 15 Euro.

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