Amnesty Report Jemen 16. April 2020

Jemen 2019

Eine Frau mit Kopftuch, dahinter ein Rollstuhl

Ulfat Mohammed al-Naseri im Flüchtlingslager Sabr im jemenitischen Lahj am 12. Juni 2019. Sie war in ihrer Heimatstadt Ta’iz von einem Querschläger getroffen worden und ist seither in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt.

In dem 2019 weiterhin andauernden Konflikt im Jemen verübten alle Parteien schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Die bewaffnete Gruppe der Huthi, die weite Teile des Landes kontrollierte, beschoss Wohnviertel willkürlich mit Granatwerfern und feuerte Artilleriegeschosse wahllos über die Grenze nach Saudi-Arabien. Die von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) angeführte Militärallianz, die die international anerkannte Regierung des Jemen unterstützte, bombardierte erneut zivile Einrichtungen und verübte wahllose Angriffe, bei denen Hunderte Zivilpersonen getötet oder verletzt wurden. Alle Konfliktparteien unterdrückten das Recht auf freie Meinungsäußerung und griffen auf rechtswidrige Praktiken wie willkürliche Inhaftierung, Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen zurück. Davon betroffen waren unter anderem Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und Angehörige der Religionsgemeinschaft der Baha’i. Minderjährige wurden Opfer sexualisierter Gewalt, ohne dass die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Der Konflikt verschlimmerte in hohem Maße die Situation von Menschen mit Behinderungen und verschärfte die Diskriminierung von Frauen und Mädchen. Gerichte verhängten 2019 zahlreiche Todesurteile, es fanden mehrere Hinrichtungen statt.

Hintergrund

Der andauernde bewaffnete Konflikt war 2019 gekennzeichnet von neuen und wiedererstarkten Fronten in den Provinzen Aden, Dhale', Hadscha, Sa’da und Taiz, die vom Süden bis in den Norden des Landes reichten.

Die international anerkannte Regierung unter Präsident Abd Rabbu Mansour Hadi, die von einer Militärallianz unter Führung Saudi-Arabiens und der VAE unterstützt wurde, sah ihren Machtanspruch im Süden des Jemen durch den sezessionistischen und von den VAE unterstützten Südlichen Übergangsrat (Southern Transitional Council – STC) infrage gestellt. Der STC und sein militärischer Flügel namens "Sicherheitsgürtel" übernahmen im August 2019 die Kontrolle über weite Gebiete der Provinzen Aden, Abyan und Schabwa. Es gab mehrtägige Kämpfe zwischen Einheiten, die Präsident Hadi treu waren, und Kämpfern der "Sicherheitsgürtel"-Miliz – ausgelöst durch einen Schusswechsel in der Nähe des Präsidentenpalastes in Aden am 7. August 2019. Zu diesem Zeitpunkt nahmen Tausende Menschen an Trauerfeiern für Soldaten teil, die bei einer Militärparade durch einen Raketenangriff getötet worden waren. Die Verantwortung für den Angriff übernahm die bewaffnete Gruppe der Huthi, die die Hauptstadt Sana’a und den Großteil des Nordjemen kontrollierte.

Im Oktober 2019 teilten die VAE mit, sie hätten ihre Truppen aus Aden abgezogen, da der "Auftrag zur Befreiung und Stabilisierung Adens" erfüllt sei, in mehreren Provinzen werde die militärische Präsenz jedoch aufrecht erhalten, um "terroristische Vereinigungen" zu bekämpfen. Saudi-Arabien übernahm die Kontrolle über alle Streitkräfte der Militärallianz im Südjemen sowie über militärische Operationen im Westen des Landes. 

Am 5. November 2019 unterzeichneten der STC und die Regierung von Präsident Hadi eine von Saudi-Arabien vermittelte politische Vereinbarung, die einen Zeitplan für 90 Tage enthielt. Demnach sollte innerhalb von 30 Tagen ein neues Kabinett gebildet werden, das sowohl die Interessen des Südens als auch des Nordens vertreten sollte. Innerhalb von 90 Tagen sollte die jemenitische Regierung nach Aden zurückkehren und ihre Geschäfte wieder aufnehmen; außerdem sollten alle Sicherheitskräfte dem Innen- und alle militärischen Einheiten dem Verteidigungsministerium unterstellt sein.

Am 16. September 2019 beklagte der UN-Sondergesandte für den Jemen öffentlich, dass es keinen Fortschritt beim Gefangenenaustausch gebe, auf den sich die Huthi und die Regierung Hadi im Dezember 2018 unter UN-Vermittlung in Schweden geeinigt hatten. Drei Tage später erklärte der Vorsitzende des von den Huthi als Exekutivorgan eingesetzten Obersten Politischen Rats in Sana’a überraschend, die Huthi seien zu, "ernsthaften Verhandlungen" mit der Regierung Hadi über den Beginn des Gefangenenaustauschs bereit. In der Folge wurden wöchentlich Gefangene ausgetauscht.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Sowohl die Huthi als auch die sie bekämpfenden Truppen begingen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und gingen dafür straflos aus. Sie verübten wahllose Angriffe und beschossen Wohnviertel in Aden, Dhale', Hadscha und Taiz mit Granatwerfern. Die Huthis feuerten Artilleriegeschosse wahllos über die Grenze nach Saudi-Arabien.

Mitte Mai 2019 begannen die Huthi mit einer neuen Serie grenzüberschreitender Angriffe, die sich gegen militärische Ziele, Produktionsstätten und die Transportinfrastruktur, einschließlich ziviler Flughäfen, in Saudi-Arabien richtete. Mehrere der Angriffe führten zu Toten und Verletzten in der Zivilbevölkerung. Am 23. Juni 2019 wurden bei einem Angriff auf den Parkplatz des Flughafens von Abha im Südwesten Saudi-Arabiens 22 Zivilpersonen verletzt, eine von ihnen tödlich. Im September 2019 führte ein Drohnenangriff auf die staatliche Ölgesellschaft Aramco in Abqaiq in der saudi-arabischen Ostprovinz dazu, dass die Ölproduktion Saudi-Arabiens für einige Wochen auf etwa die Hälfte gedrosselt wurde. Die Huthi-Rebellen bekannten sich zu dem Angriff.

Während der Kämpfe in Aden im August 2019 gerieten Zivilpersonen zwischen die Fronten. Sowohl die Einheiten von Präsident Hadi als auch die "Sicherheitsgürtel"-Miliz wandten offenbar Taktiken an, die gegen das Verbot wahlloser Angriffe verstießen. Sie feuerten wahllos Mörsergranaten und andere explosive Munition mit großer Reichweite auf Wohngebiete ab, die vom jeweiligen Gegner kontrolliert wurden, bzw. umkämpft waren, und töteten oder verletzten dabei Zivilpersonen. Bei einem Angriff in Dar Saad, einem Distrikt der Provinz Aden, schlug im August 2019 eine Granate in das Elternhaus eines dreijährigen Jungen ein, der dabei so schwer verletzt wurde, dass sein Arm amputiert werden musste.

In der südlichen Provinz Dhale' flammten immer wieder Kämpfe zwischen den Huthi und gegnerischen Truppen auf, die dazu führten, dass Tausende Menschen vertrieben und zahlreiche Zivilpersonen getötet wurden. Bei einem Angriff mit Mörsergranaten auf ein Lager von Binnenvertriebenen in Dhale' im Oktober 2019 gab es Opfer unter der Zivilbevölkerung.

Flugzeuge der Militärkoalition bombardierten von den Huthi und ihren Verbündeten kontrollierte oder umkämpfte Gebiete, oft als Vergeltungsmaßnahme für Angriffe der Huthi auf Ziele in Saudi-Arabien. Bei den Luftangriffen wurden Hunderte Zivilpersonen getötet oder verletzt. Am 28. Juni 2019 setzte die Militärkoalition bei einem Luftschlag eine in den USA hergestellte lasergesteuerte Bombe ein, die ein Wohnhaus in der Provinz Taiz traf und sechs Zivilpersonen tötete, darunter drei Minderjährige. Am 1. September 2019 wurden bei einem Luftangriff auf ein Gefängnis unter Kontrolle der Huthi in der südwestjemenitischen Stadt Dhamar 130 Inhaftierte getötet und 40 weitere Personen verletzt.

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Die bewaffnete Gruppe der Huthi, die Streitkräfte der Regierung Präsident Hadis, die von Saudi-Arabien und den VAE angeführte Militärkoalition und die von den VAE unterstützten jemenitischen Einheiten griffen auf willkürliche Inhaftierungen zurück, um die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit zu unterdrücken. 

Die Huthi inhaftierten in den von ihnen kontrollierten Gebieten weiterhin willkürlich Kritiker_innen und Gegner_innen, Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und Angehörige der Religionsgemeinschaft der Baha’i. Zahlreiche Gefangene wurden ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, nach unfairen Gerichtsverfahren verurteilt oder wurden Opfer des Verschwindenlassens. Die meisten von ihnen waren Mitglieder oder Unterstützer der politischen Partei al-Islah.

Die Fälle der zehn Journalisten, die von den Huthi inhaftiert und im Dezember 2018 nach mehr als drei Jahren Untersuchungshaft offiziell angeklagt worden waren, wurden 2019 vom Inlandsgeheimdienst an den Sonderstrafgerichtshof in Sana’a verwiesen. Das Gericht steht unter der Kontrolle der Huthi und ist für Fälle im Zusammenhang mit Terrorismus zuständig. Den Journalisten wurde unter anderem Unterstützung der von Saudi-Arabien und den VAE geführten Militärkoalition und Spionage zur Last gelegt – ein Kapitalverbrechen, auf das die Todesstrafe steht. Während der Zeit ihrer Untersuchungshaft waren die Männer mehrfach "verschwunden", hatten phasenweise keinen Kontakt zur Außenwelt und wurden dem Vernehmen nach gefoltert und anderweitig misshandelt, indem man ihnen unter anderem medizinische Versorgung verweigerte. Am 19. April 2019 kam ein Gefängniswärter nachts in ihre Zelle, zog die Gefangenen aus und verprügelte sie schwer. In der Folge kamen die Männer in Einzelhaft.

Im Juli 2019 verurteilte der Sonderstrafgerichtshof 30 Akademiker und Personen des politischen Lebens aufgrund konstruierter Anklagen nach einem unfairen Gerichtsverfahren zum Tode. Sie wurden unter anderem bezichtigt, für die von Saudi-Arabien und den VAE geführte Militärkoalition spioniert zu haben. Vor dem Prozess waren sie Opfer des Verschwindenlassens geworden, wurden unangemessen lang in Untersuchungshaft gehalten, waren ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, wurden ihren Angaben zufolge gefoltert und anderweitig misshandelt, erhielten keine medizinische Versorgung und hatten keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Zu den Verurteilten zählte der Linguistikprofessor Youssef al-Bawab, der im Jemen als politische Persönlichkeit bekannt ist. Er war Ende 2016 willkürlich festgenommen und im April 2017 angeklagt worden.

Sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige

Der endlose bewaffnete Konflikt und der Zusammenbruch staatlicher Strukturen und Schutzmechanismen erhöhte die Gefährdung Minderjähriger und ließ sie leichter zum Opfer sexualisierter und anderer Gewalt werden.

So waren in der Stadt Taiz Mitte 2018 drei Jungen vergewaltigt worden, ein vierter Junge hatte einen versuchten sexualisierten Übergriff erlebt. Eines der Opfer war erst acht Jahre alt. Die Familien hatten angesichts eines Klimas der Straflosigkeit und aus Angst vor Repressalien zunächst gezögert, die Vorfälle anzuzeigen, sich dann aber bei der Kriminalpolizei in Taiz gemeldet. Diese hatte das Hauptkrankenhaus der Stadt beauftragt, die drei vergewaltigten Jungen zu untersuchen und medizinische Gutachten zu erstellen. Das Krankenhaus hatte daraufhin jedoch nur zwei der drei Jungen untersucht. Trotz wiederholter Bitten der Familie des dritten Opfers war keine Untersuchung erfolgt. Zudem hatte das Krankenhaus von der Familie Geld für die Erstellung des Gutachtens gefordert, was sie nicht aufbringen konnte.

Aktivist_innen und Angehörige von Opfern sagten aus, ihnen seien weitere Fälle sexualisierter Gewalt bekannt, die sie jedoch aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen örtlicher Milizen nicht angezeigt hätten. Einige der betroffenen Familien mussten sogar umziehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Für die Taten wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Diskriminierung – Menschen mit Behinderungen

Menschen mit Behinderungen standen vor gewaltigen Herausforderungen, besonders dann, wenn weitere Faktoren wie Geschlechtszugehörigkeit, Alter oder Herkunft hinzukamen. Sie hatten kaum Zugang zu guter medizinischer Versorgung, Bildung und Beschäftigungsmöglichkeiten. Diejenigen, die aufgrund des bewaffneten Konflikts vertrieben worden waren, hatten massive Probleme, sich vor Gewalt in Sicherheit zu bringen, Hilfsleistungen zu erhalten und unter geeigneten und würdevollen Bedingungen zu leben.

Binnenvertriebene mit Behinderungen schilderten Amnesty International ihre mühseligen und mehrfachen Reisen auf der Suche nach einem sicheren Ort und besseren Existenzbedingungen. Die überwiegende Mehrheit der Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt waren, hatten keine Hilfsmittel wie Rollstühle oder Krücken und waren darauf angewiesen, von anderen Menschen getragen zu werden. Manchmal verschlimmerte das Reisen ihren Zustand oder führte erst zu einer Behinderung. In den Lagern für Binnenvertriebene gab es weder behindertengerechte Unterkünfte noch spezielle Toiletten.

Das mangelnde Funktionieren staatlicher Institutionen, der Zusammenbruch der Wirtschaft und die weitreichende Gesetzlosigkeit infolge des Konflikts führten dazu, dass es keine finanzielle Zuwendungen gab, um Menschen mit Behinderungen zu ihren Rechten zu verhelfen. Die Mutter eines 14-jährigen Jungen mit Gehirnlähmung sagte Amnesty International, seit es die früher üblichen Unterstützungszahlungen nicht mehr gebe, habe ihr Sohn einen Rückschlag erlitten, denn er erhalte jetzt keine Physiotherapie mehr, die ihm sehr gut getan habe.

Rechte von Frauen

Der fortdauernde Konflikt verschlechterte die bereits bestehende Diskriminierung von Frauen und Mädchen und bot ihnen noch weniger Schutz vor sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt und Zwangsverheiratung.

Todesstrafe

Die Todesstrafe war nach wie vor für eine große Anzahl von Straftaten vorgesehen. Gerichte verhängten 2019 zahlreiche Todesurteile. Es gab mehrere Hinrichtungen. Die Zahl der Prozesse vor dem Sonderstrafgericht in Sana’a wegen Straftaten, auf die die Todesstrafe stand, nahm auffallend stark zu. Die Strafverfolgungsbehörden der Huthi schienen die Anklagen als Mittel zu nutzen, um politische Gegner_innen, Journalist_innen, Akademiker_innen und Angehörige religiöser Minderheiten zu verfolgen.

Veröffentlichungen von Amnesty International

Yemen: US-made bomb used in deadly air strike on civilians (Press release, 26 September 2019)

Yemen: Huthi-run court sentences 30 political opposition figures to death following sham trial (Press release, 9 July 2019)

Excluded: Living with disabilities in Yemen’s armed conflict (MDE 31/1383/2019)  

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