Amnesty Report Marokko 18. Februar 2020

Marokko und Westsahara 2019

Männer bei einer Demonstration halten das Porträtfoto einer Frau in den Händen, sie rufen Slogans

Die Behörden schikanierten Journalist_innen, Blogger_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen, weil sie friedlich ihre Meinung äußerten. Mindestens fünf Personen erhielten 2019 Gefängnisstrafen wegen "Beleidigung" von Staatsbeamt_innen und gegen andere wurde offenbar Spionage-Software eingesetzt. Die Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit waren eingeschränkt. Einige regierungskritische Gruppen wurden von den Behörden an der Ausübung ihrer Aktivitäten gehindert. Beim Auflösen von Demonstrationen in Marokko und der Westsahara setzten die Behörden unangemessene und exzessive Gewalt ein. Nach einem unfairen Gerichtsverfahren bestätigte ein Berufungsgericht 2019 die Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren für 43 Personen, die im Zusammenhang mit den Protesten für soziale Gerechtigkeit in der Rif-Region im Jahr 2017 verurteilt worden waren. Sicherheitskräfte nahmen Tausende Migrant_innen fest und inhaftierten sie, bevor sie gegen ihren Willen in den Süden Marokkos überstellt oder in ihre Heimatländer abgeschoben wurden.

Frauen wurden 2019 weiterhin diskriminiert und waren sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Einige Frauen wurden wegen unerlaubter Abtreibungen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Polizei schikanierte Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Personen (LGBTI). Einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen unter Erwachsenen galten weiterhin als Straftat. Ein neues Gesetz machte die Berbersprache Tamazight neben Arabisch zur  offiziellen Amtssprache Marokkos. Gerichte sprachen 2019 weiterhin Todesurteile aus. Es gab jedoch keine Berichte über Hinrichtungen. Die Bewegung Frente Polisario, die in Algerien Lager für Flüchtlinge aus der Westsahara unterhält, nahm mindestens zwei Kritiker_innen fest. 

Hintergrund

Im Oktober 2019 empfahl der Nationale Menschenrechtsrat (Conseil National des Droits Humains – CNDH), sexuelle Beziehungen zwischen unverheirateten Erwachsenen nicht länger als Straftat zu ahnden. Im selben Monat verlängerte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in Westsahara (UN Mission for the Referendum in Western Sahara – MINURSO) um ein weiteres Jahr. Das Mandat enthält jedoch keine Bestimmungen zur Beobachtung der Menschenrechtslage. 

Im Februar 2019 setzte Marokko die Beteiligung an der von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) geführten Koalition im bewaffneten Konflikt im Jemen aus. 

 

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden schikanierten nach wie vor Journalist_innen, Blogger_innen, Künstler_innen und Aktivist_innen, weil sie friedlich ihre Meinung geäußert hatten. Gerichte verurteilten mindestens fünf Personen wegen "Beamtenbeleidigung"  zu Gefängnisstrafen. Die Anklagen gründeten sich auf Bestimmungen des Strafgesetzes, wonach rechtmäßige Meinungsäußerung als Straftat gelten kann.

Im Februar 2019 verurteilte ein Gericht in der Stadt Tétouan den Blogger Sofian al-Nguad zu zwei Jahren Gefängnis, weil er die Behörden im Internet kritisiert hatte. Im November 2019 verurteilte ein Gericht in Salé den Rapper Mohamed Mounir – auch bekannt unter dem Namen Gnawi – wegen "Beamtenbeleidigung" zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldbuße. 

Im April 2019 nahmen die Behörden in der Westsahara den Aktivisten Ali Al-Saadouni fest, nachdem er ein Video im Internet veröffentlicht hatte, das Aktivist_innen mit der Flagge der Frente Polisario zeigte. Die Bewegung kämpft für die Unabhängigkeit der Westsahara und hat eine selbsternannte Exilregierung eingesetzt. Im Juli 2019 verurteilte ein Gericht in Laayoune die Bürgerjournalistin Nazha El-Khalidi zu einer Geldbuße von 4.000 Dirham (rund 375 €). Sie hatte die Protestaktionen von 2018 auf ihrer Facebook-Seite per Livestream übertragen, ohne dafür eine Akkreditierung als Medienschaffende zu haben. Im November 2019 verurteilte ein Gericht die sahrauische Aktivistin Mahfouda Bamba Lefkir nach einem Versprecher gegenüber einem Richter wegen "Beleidigung" von Staatsbeamt_innen zu sechs Monaten Gefängnis. 

Amnesty International fand heraus, dass zwei marokkanische Menschenrechtsverteidiger – Maâti Monjib und Abdessadak El Bouchattaoui – mehrfach zum Ziel von geheimer Überwachung mittels Spionage-Software wurden, die von der israelischen Firma NSO Group seit 2017 hergestellt wird. Die beiden Männer erhielten Nachrichten mit Links, die, wenn sie angeklickt wurden, unbemerkt das Programm Pegasus auf ihren Smartphones installierten. Dies ermöglicht die nahezu uneingeschränkte Kontrolle über das Mobiltelefon. Im Dezember 2019 reichten acht Aktivist_innen der Zivilgesellschaft, die ebenfalls Opfer dieser Spionage-Software geworden waren, Beschwerde bei der Nationalen Kontrollkommission für den Schutz von persönlichen Daten (Commission nationale de contrôle de la protection des données à caractère personnel – CNDP) ein. Die NSO-Group verkauft bekanntlich ihre Spionage-Software nur an Regierungsstellen. Dies erhärtete den Verdacht, dass marokkanische Sicherheitsbehörden hinter den Überwachungsaktionen stecken könnten. 

 

Folter und andere Misshandlungen

Die Behörden versäumten es, Untersuchungen einzuleiten, um dem Vorwurf von Folter und anderen Misshandlungen in Gewahrsam angemessen nachzugehen. Dies führte zu unfairen Verfahren. In mehreren Fällen saßen Gefangene über große Zeiträume hinweg in Einzelhaft, was den Tatbestand der Folter oder anderer Misshandlung erfüllt. 

Im April 2019 bestätigte das Berufungsgericht in Casablanca Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren für 43 Personen. Sie waren im Zusammenhang mit den Protestaktionen für mehr soziale Gerechtigkeit im Jahr 2017 in der Rif-Region im Norden des Landes (Hirak-El-Rif-Proteste) schuldig gesprochen worden. Die Angeklagten waren auf der Grundlage von "Beweisen" verurteilt worden, die offenbar unter Folter oder anderen Misshandlungen zustande gekommen waren. Die Gefängnisbehörden bestraften Gefangene, die Proteste veranstalteten, mit Einzelhaft und der Einschränkung ihrer Familienbesuche. 

Der ehemalige Redakteur bei der unabhängigen Zeitung Akhbar al-Yaoum, Taoufik Bouachrine, saß auch 2019 – und dies bereits seit Februar 2018 – weiterhin im Gefängnis von Ain El Borja in verlängerter Einzelhaft. Im Oktober 2019 setzte ein Berufungsgericht in Casablanca seine Strafe wegen des konstruierten Vorwurfs eines sexualisierten Übergriffs von 12 auf 15 Jahre Gefängnis herauf.

Die Behörden hielten noch immer 23 sahrauische Männer in Haft, nachdem sie in unfairen Gerichtsverfahren in den Jahren 2013 und 2017 verurteilt worden waren. Die Urteile waren überschattet von Foltervorwürfen, die nicht angemessen untersucht worden waren. Die Angeklagten waren verurteilt worden, weil man sie für den Tod von elf Angehörigen der Sicherheitskräfte bei den Zusammenstößen in einem Lager in Gdeim Izik in der Westsahara im Jahr 2010 verantwortlich machte. Damals hatten Sicherheitskräfte ein großes Protest-Camp aufgelöst. 

 

Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die Behörden schränkten das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bei mehreren Gelegenheiten ein.

Im April 2019 löste die Regierung die amtlich eingetragene Kulturgruppe Racine auf, nachdem Gäste der Gruppe bei einer von ihr veranstalteten Online-Gesprächsrunde die Behörden kritisiert hatten. Im Juli 2019 wurde die Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte (Association marocaine des droits humains -– AMDH) daran gehindert, eine bereits genehmigte Veranstaltung abzuhalten. Der Veranstaltungsort hatte zuvor auf das Gelände des Demokratischen Bundes für Arbeit (Conféderation démocratique du travail) in Azrou verlegt werden müssen. 

Die Behörden nutzten eine Gesetzeslücke, um 62 Ortsverbände der AMDH an der rechtmäßigen Ausführung ihrer Arbeit zu hindern: 52 Ortsverbänden wurde die Annahme der Anträge auf Verlängerung der Zulassung verweigert. Zehn weitere Ortsverbände erhielten keine Empfangsbestätigung, als sie die notwendigen Dokumente eingereicht hatten. Das marokkanische Gesetz erlaubt es Verbänden, mit ihrer Arbeit zu beginnen, sobald sie die für die Zulassung notwendigen Dokumente bei den örtlichen Verwaltungsbehörden abgegeben und dafür eine Empfangsbestätigung erhalten haben. Dies gilt jedoch nur, wenn die zuständigen Behörden keine Einwände gegen die Gründung der betreffenden Verbände geltend machen.

Die Polizei griff am 23. April 2019 in Rabat zu unverhältnismäßiger und exzessiver Gewalt gegen eine friedliche Protestkundgebung von Lehrer_innen, die bessere Arbeitsbedingungen forderten. Sie setzte Wasserwerfer und Schlagstöcke ein, um die Demonstration aufzulösen und die Teilnehmenden am Weitermarschieren zu hindern.

Im Oktober 2019 verboten örtliche Behörden aus "Sicherheitsgründen" Demonstrationen in Al Hoceima. Die Kundgebungen sollten an den Tod von Mouhcine Fikri erinnern. Der Fischer war 2016 bei einer Aktion der Polizei gegen den illegalen Fischfang in der Stadt getötet worden. 

In der Westsahara setzte die Polizei am 19. Juli 2019 exzessive Gewalt in Form von Gummigeschossen, Schlagstöcken und Wasserwerfern ein, um Menschenansammlungen zu zerstreuen, die Algeriens Sieg im Endspiel um den Afrikanischen Fußball-Länderpokal (Coupe d’Afrique des Nations) feierten. Sabah Njourni starb, nachdem sie von zwei Fahrzeugen der paramilitärischen Bereitschaftspolizei Forces marocains auxiliaires überfahren worden war. Die Behörden ordneten eine Untersuchung des Falles an. Zum Ende des Jahres 2019 lagen jedoch noch keine öffentlich zugänglichen Ergebnisse vor. Bis zu 80 Menschen wurden dem Vernehmen nach bei den Vorfällen verletzt. Genauere Zahlen blieben im Dunkeln, da viele der Verletzten sich aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen nicht im Krankenhaus behandeln ließen. 

Die Gefängnisbehörden bestraften Gefangene, die Proteste veranstalteten, mit Einzelhaft und schränkten ihre Familienbesuche ein.

Rechte von Migrant_innen

Sicherheitskräfte nahmen Tausende Migrant_innen fest und inhaftierten sie. 11.000 von ihnen wurden gegen ihren Willen in den Süden des Landes gebracht und über 1.000 in ihre Heimatländer abgeschoben – Berichten zufolge häufig ohne ordnungsmäßiges Verfahren. Die AMDH berichtete, dass die Behörden zahlreiche Männer, Frauen und Kinder aus den Ländern südlich der Sahara in einem informellen Haftzentrum in Arekmane, nahe der Stadt Nador in der Rif-Region festhielten, bevor sie gewaltsam in Städte im Süden Marokkos verlegt oder nach Algerien abschoben wurden, wo ihnen erneute Haft drohte, oder sie in Länder wie Kamerun, Mali und den Senegal abgeschoben wurden.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen wurden nach wie vor diskriminiert und waren sexualisierter und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Obwohl Marokko 2018 ein Gesetz zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen verabschiedet hatte, wurde der dazugehörige Umsetzungsmechanismus nur halbherzig angewendet. Eine nationale Studie zur anhaltenden Gewalt gegen Frauen, die zwischen Januar und März 2019 durchgeführt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass über die Hälfte der marokkanischen Frauen von Gewalt betroffen waren. Lediglich 6,6 Prozent der Betroffenen legten Beschwerde bei den Behörden ein, die als wenig vertrauenswürdig und unfähig galten, wenn es um die Durchführung angemessener Ermittlungen ging oder die Täter zur Verantwortung gezogen werden sollten. 

Abtreibung blieb weiterhin unter allen Umständen eine Straftat. Ausgenommen waren Schwangere, deren Leben in Gefahr war und deren Ehemänner ihr Einverständnis für den Eingriff gegeben hatten. Dies schränkte das Recht auf die eigenverantwortliche Entscheidung der Frauen ein. Frauen, die eine Abtreibung anstrebten oder durchführen ließen, sowie alle Angehörige medizinischer Berufe, die Abtreibungen durchführten, riskierten Gefängnisstrafen und andere Strafmaßnahmen. Am 30. September 2019 wurde die Journalistin Hajar Raissouni wegen einer Abtreibung und vorehelichen sexuellen Beziehungen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ihr Verlobter Amin Rifaat wurde im Zusammenhang mit denselben Anklagen ebenfalls zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ein Arzt, der mutmaßlich in den Fall verwickelt war, erhielt eine zweijährige Freiheitsstrafe und darf seinen Beruf anschließend zwei Jahre lang nicht mehr ausüben. Zwei weitere Angehörige medizinischer Berufe wurden zu Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt. Am 17. Oktober 2019 begnadigte der König alle fünf Angeklagten und begründete dies mit seinem Mitgefühl. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Die Polizei schikanierte weiterhin LGBTI-Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität. Opfer homofeindlicher und transfeindlicher Angriffe gaben an, sie hätten Angst, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten, weil sie befürchteten, auf Grundlage von Paragraph 489 festgenommen zu werden. Einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Erwachsenen waren aufgrund dieses Paragrafen weiterhin strafbar und konnten mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden. 

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Im April 2019 legte die Regierung dem Parlament einen Gesetzesentwurf über Streikbestimmungen vor. Das Gesetz beinhaltete empfindliche Einschränkungen des Streikrechts, das sowohl in der marokkanischen Verfassung als auch im Völkerrecht verankert ist. Arbeitnehmer_innen, die friedlich von ihrem Streikrecht Gebrauch machen, könnten strafrechtlich verfolgt und mit Geldbußen belegt werden. Nachdem die nationalen und internationalen Gewerkschaften Druck ausgeübt hatten, wurde der Gesetzentwurf zurückgezogen. Der Status des Entwurfs blieb allerdings unklar.

Im Juni 2019 verabschiedete das Parlament einstimmig ein Gesetz, das die Berbersprache Tamazight als zweite offizielle Amtssprache neben Arabisch festschrieb. Aktivist_innen hatten sich jahrzehntelang für dieses Recht eingesetzt. Die Sprache war bereits 2011 in der Verfassung offiziell als solche anerkannt worden. Das neue Gesetz will erreichen, dass die Sprache operationalisiert wird und dass sie Eingang in alle wichtigen Sektoren des öffentlichen Lebens findet. Tamazight soll in der Bildung, im Justizsystem, im Medien- und Kommunikationssektor sowie bei Kunst- und Kulturveranstaltungen zur Anwendung kommen. Laut der Volkszählung von 2004 sprachen acht Millionen Marokkaner_innen – ein Viertel der Bevölkerung – im täglichen Leben einen der drei wichtigsten Tamazight-Dialekte. 

Todesstrafe

Gerichte verhängten weiterhin Todesurteile. Es gab jedoch keine Berichte über Hinrichtungen. Die letzten Hinrichtungen fanden im Jahr 1993 statt. 

Polisario-Flüchtlingslager

Ab Juni 2019 hielt die Bewegung Frente Polisario, die in Algerien Lager für Flüchtlinge aus der Westsahara unterhält, mindestens zwei Kritiker_innen in Gewahrsam, während ein Untersuchungsrichter dem Verdacht auf Verrat und anderen Anklagen nachging.

Die Bewegung Frente Polisario unternahm weiterhin nichts, um Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die in den 1970er und 1980er Jahren in den von ihr kontrollierten Flüchtlingslagern Menschenrechtsverstöße verübt hatten.

Veröffentlichungen von Amnesty International

Amnesty International, Morocco: Sentencing of rapper Gnawi to one year in prison a flagrant assault on freedom of expression (Pressemitteilung, 25. November 2019).



Amnesty International, Morocco: Human rights defenders targeted using malicious NSO Israeli spyware (Pressemitteilung, 10. Oktober 2019).



Amnesty International, Morocco: Abandon attempts to dissolve cultural group (Pressemitteilung, 18. Januar 2019).

Amnesty International, Morocco/ Western Sahara: Investigate brutal crackdown on Sahrawi protesters (Pressemitteilung, 1. August 2019).



Amnesty International, Morocco: Release of journalist jailed after being accused of having an abortion (Pressemitteilung, 17. Oktober 2019).

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