Amnesty Report Niger 28. März 2023

Niger 2022

Das Bild zeigt mehrere Frauen von hinten, wie sie auf den Köpfen Säcke mit Proviant transportieren

Geflüchtete Frauen auf dem Weg in ein Flüchtlingscamp in der Tillabéri-Region in Niger (Archivaufnahme vom Juli 2021)

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Das Gesetz über Internetkriminalität wurde 2022 überarbeitet, um den Schutz der Meinungsfreiheit zu verbessern. Das Recht auf Vereinigungsfreiheit war durch neue Gesetze bedroht. Streitkräfte und bewaffnete Gruppen verübten Menschenrechtsverletzungen und -verstöße. Frauen und Mädchen litten weiterhin unter Diskriminierung. Die Rechte von Migrant*innen und Inhaftierten wurden verletzt. Bewaffnete Konflikte führten zu einer Verschlechterung der Nahrungsmittelversorgung in den betroffenen Gebieten.

Hintergrund

Im Westen und Südosten des Landes, wo weiterhin bewaffnete Gruppen wie der Islamische Staat Provinz Sahel (IS Sahel), die Gruppe zur Unterstützung des Islams und der Muslime sowie Boko Haram aktiv waren, dauerten die bewaffneten Konflikte an. Das Parlament stimmte im April 2022 der Verlagerung französischer Einheiten von Mali nach Niger zu, was zu Protesten in der Hauptstadt Niamey führte. Die humanitäre Lage blieb kritisch. Aufgrund der bewaffneten Konflikte gab es etwa 200.000 Binnenvertriebene im Land.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Am 3. Januar 2022 verurteilte das Hohe Gericht in Niamey die Journalistin Samira Sabou und ihren Kollegen Moussa Aksar auf Grundlage des Gesetzes über Internetkriminalität aus dem Jahr 2019 zu einer einmonatigen bzw. zweimonatigen Haftstrafe auf Bewährung. Sie hatten online auf einen Bericht der Globalen Initiative gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Global Initiative Against Transnational Organized Crime) vom Mai 2021 hingewiesen, der zu der Erkenntnis gelangt war, dass Drogenhändler große Mengen an beschlagnahmten Drogen von den Behörden zurückgekauft hatten.

Im Juni 2022 wurde das Gesetz über Internetkriminalität reformiert, um es an internationale Menschenrechtsstandards anzupassen. Es sieht für Verleumdung und Beleidigung mittels elektronischer Kommunikationswege jetzt Geld- statt Haftstrafen vor.

Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Am 24. Februar 2022 erließen die Behörden das neue Dekret Nr. 2022-182 zur Arbeit von NGOs, das deren Handlungsspielraum stark einschränkt. Laut Paragraf 41 sind die im Land tätigen NGOs verpflichtet, all ihre Programme und Projekte von der Regierung genehmigen zu lassen. Weitere Paragrafen führen zusätzliche bürokratische Hürden ein und legen fest, dass NGOs ihre Aktivitäten nur dann fortsetzen können, wenn ihre Ziele mit den nationalen Prioritäten der Regierung übereinstimmen.

Im August 2022 verboten die Behörden eine Demonstration, die das zivilgesellschaftliche Bündnis M62 geplant hatte, um gegen die Präsenz ausländischer Truppen in Niger zu protestieren.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Mai 2022 schlossen die Behörden eine Untersuchung zu den Auseinandersetzungen in Téra im November 2021 ab, bei denen drei Männer getötet und 18 weitere Personen verletzt worden waren, als Demonstrierende einen französischen Militärkonvoi gewaltsam blockiert hatten. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass nicht festgestellt werden könne, wer für die Toten und Verletzten verantwortlich sei, empfahl den Behörden Frankreichs und Nigers jedoch, die Opfer und ihre Familien finanziell zu entschädigen.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen wurden weiterhin durch Gesetze und kulturelle Praktiken diskriminiert. Nach Angaben des Ministeriums für Frauenförderung und Kinderschutz wurden 76 Prozent der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Niger behielt seine Vorbehalte zu Bestimmungen des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) bei. Zudem gab es weiterhin innerstaatliche Gesetze, die Frauen bezüglich Heirat, Scheidung, Erbschaftsangelegenheiten und Landbesitz diskriminierten.

Rechte von Inhaftierten

Die Rechte von Inhaftierten wurden verletzt, insbesondere im Hochsicherheitsgefängnis Koutoukalè. Vielen Häftlingen wurde das Recht auf Gesundheit verwehrt, u. a. indem man ihnen die ärztliche Versorgung verweigerte. Das Besuchsrecht war eingeschränkt. Familienangehörige wurden daran gehindert, die Inhaftierten mit Lebensmitteln, Medikamenten und Trinkwasser zu versorgen. Am 7. März 2022 prangerte Oberst Hamadou Djibo, der nach einem Putschversuch im März 2021 inhaftiert worden war, in einem offenen Brief seine Misshandlung in der Haft und die Verschleppung seines Verfahrens an. Eine Woche später begannen die Behörden, Familienangehörigen Besuche der Inhaftierten in Koutoukalè zu erlauben.

Rechte von Migrant*innen und Binnenvertriebenen

Die algerischen Behörden setzten 2022 im Zuge gewaltsamer Abschiebungen Tausende Migrant*innen an einem Ort namens Point Zero an der Grenze zu Niger aus. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen erfasste dort allein von Januar bis Mai etwa 14.000 Menschen. Mehr als 70 Prozent der Betroffenen gaben an, sie seien in Algerien Gewalt und erniedrigender Behandlung ausgesetzt gewesen. Im Juni wurden nahe der Grenze zu Libyen die Leichen von zehn Migrant*innen gefunden. Im September flohen etwa 2.100 Menschen aus einem Lager für Binnenvertriebene in der Ortschaft Kablewa (Region Diffa), um sich andernorts in Sicherheit zu bringen, nachdem Boko-Haram-Kämpfer sie bedroht hatten.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Bewaffnete Gruppen

In der Region Tillabéri und in Gebieten des Tschadseebeckens waren bewaffnete Gruppen 2022 für Angriffe und Tötungen verantwortlich, die in einigen Fällen als Kriegsverbrechen gelten können. Nach Angaben der Regierung griffen Mitglieder einer bewaffneten Gruppe im Februar 2022 einen Lastwagen an, der sich auf dem Weg nach Tizigorou in der Region Tillabéri befand. Dabei wurden 18 Zivilpersonen getötet und acht weitere verletzt. Boko-Haram-Kämpfer aus Nigeria töteten Medienberichten zufolge mindestens 20 Dorfbewohner*innen, als sie im März 2022 fünf Ortschaften in der Region Diffa angriffen. Wie das Ministerium für öffentliche Sicherheit mitteilte, wurden ebenfalls im März bei einem Anschlag auf einen Handelskonvoi nahe der Stadt Petelkole in der Region Tillabéri mindestens 19 Zivilpersonen getötet. Der Angriff wurde dem IS Sahel zugeschrieben.

Streitkräfte

Bei einem Angriff der nigerianischen Armee wurden im Februar 2022 in Nachade in der Region Maradi sieben Kinder getötet und fünf weitere verletzt. Nach Angaben des Gouverneurs von Maradi galt der Angriff "Banditen" im Grenzgebiet.

Im Oktober 2022 wurde die nigrische Armee beschuldigt, bei Luftangriffen rechtswidrig Personen getötet zu haben, die in der Nähe von Tamou Gold schürften, nachdem eine bewaffnete Gruppe zuvor eine Polizeiwache angegriffen und dabei zwei Polizeikräfte getötet und eine Person verletzt hatte. Die Regierung bestritt jegliche rechtswidrige Tötung und erklärte in einem Kommuniqué, es seien sieben Kämpfer getötet und 24 verwundet worden. Im Dezember kam die nationale Menschenrechtskommission nach einer Untersuchung zu dem Schluss, dass der Luftangriff gegen das Waffenlager einer bewaffneten Gruppe in der Nähe der Goldmine gerichtet war und dass dabei elf Personen getötet wurden. Anschließend seien bei einem Folgeeinsatz 25 Menschen verletzt worden, darunter auch Zivilpersonen.

Recht auf Nahrung und Wasser

Die bewaffneten Konflikte und die daraus resultierende Vertreibung der Bevölkerung führten dazu, dass es in den betroffenen Gebieten an Lebensmitteln und Trinkwasser mangelte. Zudem gingen die landwirtschaftlichen Erträge aufgrund von Dürre und Überschwemmungen zurück. Nach Angaben der Regierung litten mehr als 4,4 Mio. Menschen und damit fast 20 Prozent der Bevölkerung unter Ernährungsunsicherheit.

Der Lebensmittel- und Wassermangel betraf insbesondere Binnenvertriebene und nicht zuletzt die Kinder unter ihnen. Mädchen litten zusätzlich darunter, dass ihre Familien sie aus der Schule nahmen und zu einer frühen Heirat drängten bzw. sie zwangsverheirateten.

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