Blog Russische Föderation 23. November 2014

Offener Brief an Putin

Das Moskauer Büro der NGO HRC Memorial wurde als "ausländischer Agent" markiert 

Zwei Jahre nach Inkrafttreten des sogenannten "Agentengesetzes" übergaben Aktivisten in Moskau einen Offenen Brief an Putin, in dem 148 Nichtregierungsorganisationen aus der ganzen Welt die Aufhebung des Gesetzes und ein Ende der Schikane gegen die unabhängige Zivilgesellschaft in Russland fordern.

Es ist weithin bekannt, dass einige Mitglieder des sowjetischen Geheimdienstes KGB ihren Beruf wählten, weil sie inspiriert wurden durch Filme über sowjetische Geheimagenten und feindliche Spione. Einige gaben das sogar offen zu.

In diesen Filmen wurden die Sowjets als Auslandsaufklärer dargestellt, die Fremden als Spione. Jahrelang verbannte die Zensur der Regierung die ausländischen James Bond-Filme von den sowjetischen Kinoleinwänden. Das änderte sich in den 90er Jahren durch die Ära der Videokassette. Der Spion James Bond wurde bekannt unter seinem Codenamen – Agent 007.

Trotz seines guten Aussehens waren alle sowjetischen Landsleute überzeugt – er war keiner von Ihnen.

Im Laufe der Jahre wechselten die Anhänger der Spionage-Filme weg vom KGB auf andere Positionen. Aber es scheint so, als ob das Image des ausländischen Agenten noch immer in ihrem Gedächtnis verankert ist. Und wer weiß, vielleicht führte das zu der Idee, dass man jemanden, den man diskreditieren möchte, einfach als "Agenten" bezeichnet. Die unglückliche Assoziation übernimmt dann den Rest. Russen mögen keine "Agenten".

In ihren Augen verdient jeder diesen Titel, der die Regierung kritisiert. Dazu gehören auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Unter ihnen waren auch die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die versuchten die einfachen Bürger vor den illegalen Aktionen der Behörden zu schützen, indem sie die Regierung beschuldigten Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Diese Menschenrechtsverteidiger waren Russlands herrschender Elite ein Dorn im Auge. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dass etwas mit ihnen geschehen müsse.

Gesagt, getan – vor zwei Jahren trat das von der Duma verabschiedete Gesetz in Kraft. Es ist überall bekannt als das "Agentengesetz", obwohl es eigentlich nur eine Abänderung des älteren Gesetzes "über gewerbliche Organisationen" ist. Das überarbeitete Gesetz mit all seinen Neuerungen wurde zunächst nicht angewandt. Im Februar 2013 begann jedoch die russische Staatsanwaltschaft mit massenhaften Inspektionen von NGOs im ganzen Land. Es folgten gerichtliche Anhörungen. Die Schmutzkampagne gegen NGOs begann.

Trotz der Forderungen der russischen Behörden weigerten sich MenschenrechtsaktivistInnen, sich freiwillig "Agenten" zu nennen. Als sich alle russischen Menschenrechtsorganisationen solidarisch zusammenschlossen und erklärten, sie seien keine "Agenten", fand das große Bewunderung in der Bevölkerung.

Die russischen Behörden mussten sich beeilen, um das folgenreiche Gesetz zu modifizieren. Nach diesen Änderungen werden "Agenten" nun ohne Gerichtsverfahren und ohne Zustimmung der NGOs registriert. Auf dieser Liste finden sich auch die führenden Menschenrechtsorganisationen. Die Registrierung selber besteht lediglich aus einem Federstrich des Justizministeriums. Gerade in dieser Woche wurden zwei weitere Organisationen in das Register aufgenommen und mit dem Label "ausländischer Agent" stigmatisiert.

Russische NGOs lehnen diese Stigmatisierung immer noch ab – keine der zur Registrierung gezwungenen NGOs würde sich selbst oder die Bevölkerung belügen. Sie sind keine "Agenten". Diese Leute aus den verschiedensten NGOs in unterschiedlichen Städten unseres Landes arbeiten für das Wohl unserer Mitbürger, indem sie den Leuten helfen, deren Rechte durch die russischen Behörden verletzt werden.

Die letzten zwei Jahre, in denen beständig Druck auf die zivilgesellschaftlichen AktivistInnen ausgeübt und sie verunglimpft wurden, die Welle der staatlichen Propaganda und die Berge von Lügen und Beschimpfungen haben das Leben der MenschenrechtsverteidigerInnen, UmweltschützerInnen und AktivistInnen massiv erschwert. Ihr Kampf ist weithin bekannt unter den NGO-KollegInnen in anderen Ländern. Offensichtlich wird das durch eine Vielzahl an Solidaritätsaktionen, die in den letzten zwei Jahren im Ausland zur Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft ins Leben gerufen wurden.

Bis zum zweiten Jahrestag des beschämenden "Agentengesetzes", haben fast 150 NGOs – nationale und internationale – einen Brief an Präsident Putin unterschrieben, indem sie ihn auffordern, das skandalöse Gesetz aufzuheben.

Gemeinsam mit meinen Kollegen von Amnesty International und in der Anwesenheit von Journalisten habe ich diese Woche besagten Brief der Präsidialverwaltung übergeben. Unsere Kollegen aus 32 Ländern, die den Brief unterschrieben haben, warten nun auf eine Reaktion der russischen Behörden. Wir haben den Brief gemeinsam mit sechs Seiten voller Unterschriften und einem mit den Worten des Briefes bedruckten Plakat übergeben. Obwohl das Plakat für großes Aufsehen bei den Mitarbeitern sorgte, wurde beides zu unserer großen Überraschung entgegengenommen.

Einer sagte: "Das ist alles sinnlos." Das ist es nicht. Über 50 Jahre Aktivismus von Amnesty International in allen Regionen der Welt zeigt das Gegenteil.

Es gab schon dunklere Tage in der Geschichte unseres Landes. Wir haben zahlreiche Lügen- und Verleumdungskampagnen gegen einzelne BürgerInnen, zivilgesellschaftliche Gruppen und Nationen erlebt. Verleumder haben immer ins gleiche Horn geblasen wie die Behörden. Allerdings lehrt uns der unerbittliche Verlauf der Geschichte, dass die Wahrheit immer wieder ans Licht kommt und die Gerechtigkeit siegt. Es braucht vielleicht Jahre und erfordert manchmal große Stärke. Aber wir wissen alle, dass diejenigen, die als "ausländische Agenten" diffamiert und stigmatisiert werden, in Wahrheit sehr mutig und couragiert sind. Und letztendlich wird man sich an dieses Kapitel in der Geschichte mit Abscheu erinnern.

Sergei Nikitin, Direktor des Moskauer Büros von Amnesty International

Eine Version dieses Blogeintrages erschien auf Russisch auf Ekho Moskvy´s Website.

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