Blog 14. September 2014

Wichtige Chance vertan

Zeichnung von zwei Überwachungskameras

Beim "Internet Governance Forum" (IGF) der Vereinten Nationen diskutierten Anfang September Tausende Delegierte aus aller Welt unter anderem darüber, wie die Menschenrechte im Internet besser geschützt werden können. Konkrete Entscheidungen wurden jedoch nicht getroffen. Sebastian Schweda, der für die deutsche Amnesty-Sektion am IGF in Istanbul teilnahm, zieht daher in seinem Blog-Beitrag eine ernüchternde Bilanz.

Sebastian Schweda aus Saarbrücken ist seit 2006 Amnesty-Mitglied und seit 2014 Sprecher der neu gegründeten Arbeitsgruppe "Menschenrechte in der digitalen Welt" der deutschen Amnesty-Sektion.

Wir chatten, twittern und surfen: Das Internet und die sozialen Medien bieten uns noch nie dagewesene Möglichkeiten, um über alle Grenzen hinweg zu kommunizieren. Doch gleichzeitig wird in vielen Staaten überwacht, gefiltert und zensiert.



Eines der Länder, in denen es die Meinungsfreiheit bald noch schwerer haben wird, ist die Türkei: Künftig kann die staatliche Telekommunikationsbehörde den Zugang zu Websites innerhalb von vier Stunden ohne gerichtlichen Beschluss sperren lassen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat vergangenen Donnerstag eine entsprechende Änderung des Internetgesetzes unterzeichnet.



Das Änderungsgesetz wird es der Regierung noch einfacher machen, Inhalte im Netz zu zensieren und legitime regierungskritische Proteste zu unterbinden. Bereits im Wahlkampf hatte Erdoğan die Sperre von Twitter und YouTube angeordnet; diese Entscheidungen waren später von Gerichten kassiert worden.



Die Verschärfung der Internetkontrolle kam nur wenige Tage nach dem Ende des Jahrestreffens des "Internet Governance Forum" (IGF), das in diesem Jahr ironischerweise von der Türkei ausgerichtet wurde und an dem ich Anfang September für Amnesty International teilnahm. Die etwa 3.500 internationalen Delegierten dieses seit 2006 alljährlich von den Vereinten Nationen veranstalteten Treffens zu Fragen der Internetregulierung diskutierten in Istanbul unter anderem darüber, wie die Menschenrechte im Internet besser geschützt werden können.

Dass das Gastgeberland zugleich diese Rechte massiv beschneidet, hatte ich bereits im Vorfeld in einer Amnesty-Pressemitteilung deutlich kritisiert. Amnesty hatte pünktlich zum IGF darauf aufmerksam gemacht, dass in Izmir derzeit 29 Twitter-Nutzer vor Gericht stehen, weil sie während der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Jahr Twitter-Nachrichten abgesetzt hatten – obwohl diese in keiner Weise zu Gewalt aufgerufen hatten.

Ein Demonstrant benutzt sein Smartphone, um in den sozialen Medien über das gewalttätige Vorgehen der Polizei gegen die Proteste in der Nähe des Taksim-Platzes zu berichten (Istanbul, 3. Juni 2013).

Die Liste der Menschenrechtsthemen beim diesjährigen IGF-Treffen war lang und ließ mich hoffen, dass man nach einer Phase intensiver Enthüllungen über die menschenrechtswidrige Überwachungspraxis westlicher Geheimdienste die Probleme nun aktiv angehen würde. Doch der Eindruck, den ich von der Konferenz gewann, war ein anderer: Der "Multistakeholder-Ansatz", der eine breite Beteiligung von Staaten, Unternehmen, Medien, technischer Community, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bei den Fragen der Internetregulierung vorsieht, wurde von den Anwesenden primär dazu genutzt, aneinander vorbeizureden.

In teils zeitlich parallel ablaufenden und sogar räumlich benachbarten Workshops beschäftigten sich die Teilnehmer neben dem Thema Menschenrechte mit so unterschiedlichen Fragen wie der Netzneutralität, dem Schutz von Kindern im Internet, der Cyber-Sicherheit, dem Urheberrecht, dem Schutz vor Spam und der Frage, wer die bisher von den USA ausgeübte Kontrolle über wesentliche Netzverwaltungsfunktionen künftig erhalten soll.

Doch echter Dialog zwischen den Vertretern gegensätzlicher Interessen? Fehlanzeige!

Es schien, als ob sich jeder Teilnehmer seine Lieblingsveranstaltungen herausgesucht hätte und dort dann unter seinesgleichen in der gemeinsamen Filter-Bubble diskutierte.

Völkerrechtlich verbindliche Entscheidungen kann das IGF ohnehin nicht treffen, und so konnten sich vor allem diejenigen bestätigt fühlen, die das Forum für eine reine Quatschbude halten. Zu den wichtigen Menschenrechtsfragen jedenfalls konnte man aus dem Mund derjenigen, die für ihren Schutz verantwortlich wären – Staaten und große Internetunternehmen –, nur wenig hören. Sicherlich auch deshalb, weil eine Beteiligung an diesen Diskussionen verlangt hätte, zu Vorwürfen hinsichtlich eigener Menschenrechtsverstöße Position zu beziehen.

Um den Menschenrechten im Internet mehr Gehör zu verschaffen, luden türkische Aktivisten und Akademiker daher zu einer parallel zum IGF stattfindenden Gegenveranstaltung: dem "Internet Ungovernance Forum". In zahlreichen Sessions, die hauptsächlich an der Istanbuler Universität stattfanden, wurden die drängenden Probleme des Internet – Zensur, Überwachung, Internetsperren und eine übermäßige Kommerzialisierung des Netzes – diskutiert, die zeitgleich im IGF von Regierungen und Internetkonzernen weitgehend erfolgreich totgeschwiegen wurden.

Den krönenden Abschluss bildete das Verlesen eines Statements von Edward Snowden, der aufgrund technischer Probleme nicht live auf der Videoleinwand erscheinen konnte, und ein Interview des in Berlin lebenden IT-Experten und Aktivisten Jacob Appelbaum mit WikiLeaks-Gründer Julian Assange, der aus der ecuadorianischen Botschaft in London zugeschaltet war.

Snowden und Assange warnten beide davor, dass Websperren und Filtersysteme auch ein zentrales Einfallstor für geheimdienstliche Überwachung darstellten, da über sie der gesamte Datenverkehr abgreifbar sei. Zensur und Überwachung seien daher zwei Seiten derselben Medaille. Ein wahres Wort zu den Kernthemen von Amnesty in dieser Debatte – schade, dass es die Verantwortlichen in den Regierungen nicht hörten.

Eins ist klar: Amnesty wird sich auch weiterhin für einen verbesserten Schutz der Menschenrechte im Netz einsetzen – ob innerhalb oder außerhalb des IGF, wird auch davon abhängen, wie sich die Bereitschaft der Staaten und großen Unternehmen entwickelt, auf dieser Plattform ernsthaft in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft über dieses Thema zu treten.

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