Amnesty Report Ungarn 20. Mai 2010

Ungarn 2010

Amtliche Bezeichnung: Republik Ungarn Staatsoberhaupt: László Sólyom Regierungschef: Gordon Bajnai (löste im April Ferenc Gyurcsány im Amt ab) Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 10 Mio. Lebenserwartung: 73,3 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 9/8 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 98,9%

Die rechtsradikale Organisation Magyar Gárda (Ungarische Garde) organisierte in östlichen Landesteilen in Ortschaften mit einem hohen Einwohneranteil der Roma eine Reihe von Aufmärschen. Gewalttätige Angriffe gegen die Gemeinschaft der Roma rissen nicht ab.

Hintergrund

Die Situation im Jahr 2009 war gekennzeichnet durch politische und wirtschaftliche Turbulenzen, die zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány führten. Sein Kabinett, das aus Mitgliedern der Sozialistischen Partei bestanden hatte, machte einer Übergangsregierung unter Gordon Bajnai Platz. Die unter dem Namen Jobbik bekannte rechtsextreme politische Partei Jobbik Magyarországért Mozgalom (Bewegung für ein besseres Ungarn), deren Agenda romafeindlich ist und zunehmend antisemitische Züge trägt, gewann im Juni bei den Wahlen zum Europäischen Parlament drei Sitze.

Im Mai wurde Ungarn zum Mitglied des UN-Menschenrechtsrats gewählt und trat seine Mitgliedschaft im Juni an. Ein von internationalen Finanzinstitutionen und der EU gewährter Notkredit über 20 Mrd. Euro war mit Auflagen für die Regierung verbunden: Sie musste Gehälter im öffentlichen Sektor, Pensionen, Sozialleistungen und andere Regierungsausgaben kürzen.

  • Im Juli 2009 traf das Berufungsgericht in Budapest eine rechtskräftige Entscheidung zum Verbot von Magyar Gárda, einer Organisation mit Verbindungen zur politischen Partei Jobbik. Das Gericht befand, dass die Aktivitäten von Magyar Gárda die Grenzen ihrer Rechte als Vereinigung überschritten und die Freiheiten der Roma eingeschränkt hätten. Noch im selben Monat kündigte Jobbik an, dass sie Magyar Gárda reaktivieren werde. Eines ihrer neu gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments trug bei der ersten Parlamentssitzung in Brüssel die Uniform der Magyar Gárda. Im Dezember bestätigte der Oberste Gerichtshof das Verbot der Magyar Gárda.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im September 2009 gab der Ministerpräsident bekannt, dass Ungarn einen der auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay einsitzenden Gefangenen aufnehmen werde. Er solle an einem 18-monatigen Integrationsprogramm teilnehmen. Am 1. Dezember wurde ein palästinensischer Häftling aus Guantánamo Bay nach Ungarn überstellt.

Rassismus

Im Februar drückte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (European Commission Against Racism and Intolerance – ECRI) ihre Besorgnis über das starke Ansteigen rassistischer Äußerungen in der Öffentlichkeit aus. Sie wies auch erneut auf die bereits in früheren Berichten dargelegte Tatsache hin, dass Roma in Ungarn auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Bildungswesen weiterhin diskriminiert werden. Im Oktober zeigte sich der Kommissar für Menschenrechte des Europarats über den Anstieg des Extremismus besorgt und appellierte an die Vorstände aller politischen Parteien sicherzustellen, dass bei der Kampagne für die im Jahr 2010 stattfindenden Wahlen keine fremdenfeindlichen oder gegen Roma gerichteten Äußerungen gemacht werden.

Gewalttätige Angriffe auf Angehörige der Roma waren weiterhin an der Tagesordnung. Die Ungarische Nationale Ermittlungsbehörde, eine Polizeibehörde zur Untersuchung schwerer Verbrechen, verstärkte ein Sonderermittlungsteam auf 120 Beamte, um eine Serie von Übergriffen gegen die Gemeinschaft der Roma aufzuklären.

  • Im Februar 2009 wurden Róbert Czorba und sein fünfjähriger Sohn in der Ortschaft Tatárszentgyörgy getötet. Nach ersten Ermittlungen gab die lokale Polizei bekannt, dass die beiden Personen nach einem Brand, der durch einen elektrischen Defekt in ihrem Haus entstanden war, tot aufgefunden worden seien. Später am selben Tag räumte die Polizei ein, dass Schusswunden an ihren Körpern nachgewiesen wurden. Sie nahm jedoch erst zehn Stunden später Ermittlungen wegen Mordes auf. Im August gab der Justizminister bekannt, dass gegen lokale Polizeibeamte ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden sei.

Im November kam die unabhängige Untersuchungskommission für Beschwerden gegen die Polizei nach Überprüfung der von der Polizei durchgeführten Ermittlungen im Zusammenhang mit den Morden in Tatárszentgyörgy zu dem Ergebnis, dass die lokale Polizei in schwerwiegender Weise grundlegende Rechte der Opfer des Anschlags auf effektive Ermittlungen verletzt habe.

  • Im April 2009 wurde Jenö Kóka, ein 54-jähriger Angehöriger der Roma, in der Roma-Siedlung der Ortschaft Tiszalök getötet. Berichten zufolge wurde er erschossen, als er sein Haus verließ, um sich auf den Weg zur Nachtschicht an seinem Arbeitsplatz in einer nahe gelegenen Chemiefabrik zu begeben. Die lokale Polizei gab bekannt, dass Ähnlichkeiten zwischen dem Fall Jenö Kóka und früheren Angriffen auf die Roma-Gemeinschaft bestünden.

  • Im August 2009 wurde Maria Balogh, eine 45-jährige Roma, im Dorf Kisléta erschossen. Ihre 13-jährige Tochter wurde schwer verwundet. Noch im selben Monat nahm die Polizei vier Männer unter dem Verdacht fest, diese und mindestens fünf weitere tödliche Anschläge auf Angehörige der Gemeinschaft der Roma begangen zu haben, darunter auch auf Róbert Csorba und dessen Sohn sowie auf Jenö Kóka. Alle vier Verdachtspersonen stritten eine Beteiligung an diesen Übergriffen ab. Bei Jahresende befanden sie sich noch in Untersuchungshaft. Im August gab der Leiter der Nationalpolizei bekannt, dass Beweise vorlägen, die die Verdächtigen mit zwischen November 2008 und August 2009 gegen die Gemeinschaft der Roma begangenen Gewaltverbrechen mit Todesfolge in Verbindung bringen. Er teilte mit, dass offenbar Rassismus das Hauptmotiv für die Verbrechen war. Die NGO European Roma Rights Centre dokumentierte die Tötung von neun Roma während des gleichen Zeitraums.

Im September erstatteten ungefähr 400 Roma-Frauen Anzeige gegen Oszkár Molnár, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Partei Fidesz und Bürgermeister der Stadt Edéleny. Sie warfen ihm verleumderische Bemerkungen über Roma-Frauen vor. Oszkár Molnár wurde auch von NGOs, anderen Politikern und den Medien wegen seiner antisemitischen Äußerungen kritisiert, die er im Oktober während eines Interviews in einer lokalen Fernsehstation abgegeben hatte.

Diskriminierung von Roma

Zwangssterilisierungen

  • Nach acht Jahren nationaler und internationaler Gerichtsverfahren teilte der Staatssekretär des Ministeriums für Soziales und Arbeit im Februar 2009 mit, dass das Ministerium Frau A. S. eine finanzielle Entschädigung für die am 2. Januar 2001 ohne ihre Zustimmung durchgeführte Sterilisierung leisten werde.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

  • Das von großem Aufsehen begleitete Verfahren im Fall Zsanett E. wurde fortgesetzt. Im Januar 2009 leitete der Staatsanwalt von Budapest eine Untersuchung wegen des Vorwurfs ein, Zsanett E. habe fünf Polizeibeamte fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigt. Da jedoch eine 2008 von Zsanett E. gestellte Zivilklage noch anhängig war, hätten Ermittlungen gegen sie nicht eingeleitet werden dürfen. Die Ermittlungen des Staatsanwalts wurden deshalb ausgesetzt.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen

Am 5. September 2009 fand in Budapest die Parade der Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender-Personen (Gay Pride Parade) unter angemessenem Polizeischutz statt. Während des Marschs wurden keine Zwischenfälle gemeldet. Eine junge Frau soll jedoch nach der Parade von zwei oder drei homosexuellenfeindlichen Gegendemonstranten angegriffen worden sein und Verletzungen am Kopf und an den Armen davongetragen haben. Das Budapester Polizeikommissariat leitete Ermittlungen zu dem Vorfall ein, den sie als "Gewalt gegen ein Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe" klassifiziert hatte, obwohl durch die im Februar erfolgte Reform des Strafgesetzbuchs homophobe Übergriffe und andere Hassdelikte als neue Straftatbestände eingeführt worden waren. Nachdem die ungarische Bürgerrechtsorganisation Hungarian Civil Liberties Union (HCLU) auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht hatte, erklärte die Polizei, dass der Übergriff bei den weiteren Ermittlungen gemäß den neuen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs behandelt werde.

Amnesty International: Mission und Bericht

Ein Vertreter von Amnesty International besuchte Ungarn im September.

Romani woman shot dead in Hungary (EUR 27/001/2009)

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