Amnesty Report Nord- und Südamerika 18. Mai 2012

Amerika 2012

 

"Das ist ein Angriff auf die Demokratie (und) ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit." (Mit diesen Worten kommentierte der brasilianische Landtagsabgeordnete Marcelo Freixo die Ermordung der Richterin Patrícia Acioli. Marcelo Freixo ist selbst schon Opfer zahlreicher Morddrohungen geworden, da er seit langem zu kriminellen Banden recherchiert und deren Verbrechen anprangert.)

Am 11. August 2011 töteten Angehörige der Militärpolizei die Richterin Patrícia Acioli vor ihrem Haus in der Stadt Niterói im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro mit 21 Schüssen. Als Vorsitzende Richterin bei Strafprozessen wegen Menschenrechtsverletzungen gegen brasilianische Polizeibeamte hatte sie schon jahrelang Morddrohungen erhalten. Im Oktober wurden elf Polizisten, unter ihnen ein leitender Beamter, festgenommen und beschuldigt, sie ermordet zu haben. Richterin Acioli soll vor ihrem Tod die strafrechtlichen Ermittlungen gegen diese Polizisten geleitet haben, die im Verdacht standen, für außergerichtliche Hinrichtungen und kriminelle Aktivitäten verantwortlich zu sein. Der Tod von Patrícia Acioli war ein schwerer Schlag für die Menschenrechtsbewegung in Brasilien. Doch ihr unermüdliches Streben nach Gerechtigkeit ist ein Vorbild für unzählige andere, die sich wie die Richterin weigern, Menschenrechtsverletzungen ungestraft hinzunehmen.

Die Forderung nach dem Schutz der Menschenrechte war im Jahr 2011 überall in der Region zu hören: in den Gerichtssälen der einzelnen Länder, den interamerikanischen Institutionen und auf der Straße. Die Rufe nach Gerechtigkeit, vorgebracht von Einzelpersonen, Menschenrechtsverteidigern, zivilgesellschaftlichen Organisationen und indigenen Völkern wurden lauter. Sie führten aber auch dazu, dass sich ganz normale Menschen in direkter Konfrontation mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessen gegenübersahen. Im Mittelpunkt vieler Konflikte standen politische Strategien der wirtschaftlichen Entwicklung - Strategien, die für zahlreiche Menschen ein erhöhtes Risiko von Missbrauch und Ausbeutung mit sich brachten. In Armut lebende Menschen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen waren hiervon besonders betroffen.

Die Forderung nach Gerechtigkeit und einem Ende der Straflosigkeit

Die juristische Aufarbeitung vieler Menschenrechtsfälle kam nur langsam voran. Sie wurde durch das Fehlen eines angemessenen Zugangs zur Justiz und die mangelnde Unabhängigkeit des Justizwesens behindert. Ein weiteres Hemmnis war die in einigen gesellschaftlichen Sektoren vorhandene Bereitschaft, auf radikale Maßnahmen zurückzugreifen, um Rechenschaftslegung zu vermeiden und eigennützige politische, kriminelle und wirtschaftliche Interessen zu verteidigen. Die Bedrohung und Ermordung von Menschenrechtsverteidigern, Zeugen, Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Richtern in Ländern wie Brasilien, Kolumbien, Kuba, Guatemala, Haiti, Honduras und Venezuela erschwerten oft den Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte. Journalisten, die versuchten, Machtmissbrauch, Menschenrechtsverletzungen und Korruption aufzudecken, wurden in Lateinamerika und der Karibik gleichfalls häufig Opfer von Gewaltverbrechen.

Trotz Hindernissen und häufigen Rückschlägen verzeichneten einige Länder in der Region bemerkenswerte Fortschritte bei der Untersuchung und strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, und einige ehemalige De-facto-Militärherrscher und hochrangige Befehlshaber wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Der ehemalige Armeegeneral Reynaldo Bignone und der Politiker und ehemalige ranghohe Polizist Luis Abelardo Patti wurden im April 2011 in Argentinien wegen in den 1970er Jahren in der Stadt Escobar verübter Morde, Entführungen und Folterungen zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Oktober erhielten der ehemalige Marinekapitän Alfredo Astiz und 15 weitere ehemalige Marineoffiziere wegen ihrer Beteiligung an 86 Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der 1970er Jahre Gefängnisstrafen zwischen 18 Jahren und lebenslänglich. Ihre Opfer waren entführt und in einem geheimen Haftzentrum in einer Marineschule in Buenos Aires (Escuela Superior de Mecánica de la Armada - ESMA) gefangen gehalten worden. Dort wurden einige zu Tode gefoltert, andere tötete man, indem man sie aus Flugzeugen stieß. Unter den Todesopfern waren die französischen Nonnen Léonie Duquet und Alice Domon, der Schriftsteller und Journalist Rodolfo Walsh sowie die Menschenrechtsverteidigerinnen und Mitbegründerinnen der Hinterbliebenenorganisation Madres de la Plaza de Mayo, Azucena Villaflor, María Bianco und Esther Careaga.

In Bolivien verurteilte der Oberste Gerichtshof im August 2011 sieben ehemalige hochrangige militärische und zivile Beamte wegen ihrer Beteiligung an den unter dem Namen "Schwarzer Oktober" bekanntgewordenen Ereignissen, bei denen im Jahr 2003 während eines Protests in El Alto in der Nähe von La Paz 67 Personen getötet und mehr als 400 verletzt worden waren. Das war das erste Mal, dass ein Verfahren gegen Militärangehörige, die der Verletzung der Menschenrechte beschuldigt wurden, in einem bolivianischen Zivilgericht zu einem Abschluss kam. Fünf ehemalige Militärangehörige erhielten Gefängnisstrafen zwischen zehn und 15 Jahren, während zwei ehemalige Minister zu Gefängnisstrafen von jeweils drei Jahren verurteilt wurden, die aber später zur Bewährung ausgesetzt wurden.

In Brasilien unterzeichnete Präsidentin Dilma Rousseff das Gesetz zur Schaffung einer Wahrheitskommission, die die Aufgabe hat, die zwischen 1946 und 1988 verübten Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. In Chile erreichte die Anzahl der Fälle von Menschenrechtsverletzungen, in denen Gerichte Ermittlungen durchführten, den bisher höchsten Stand, nachdem eine Staatsanwältin 726 neue Strafanträge und mehr als 1000 sonstige Klagen bei den Gerichten eingereicht hatte. Sie waren im Laufe der Jahre von Angehörigen der während der Militärregierung unter General Augusto Pinochet aus politischen Gründen hingerichteten Menschen vorgelegt worden.

Der ehemalige Präsident Jean-Claude Duvalier kehrte nach 25-jährigem Exil nach Haiti zurück, wo ihn strafrechtliche Ermittlungen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen aufgrund von Klagen der Opfer und deren Familienangehörigen erwarteten. In Kolumbien wurde General a.D. Jesús Armando Arias Cabrales im April wegen seiner Beteiligung am Verschwindenlassen von elf Personen im November 1985 zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt. Die elf Menschen "verschwanden", nachdem die Armee den Justizpalast gestürmt hatte, wo Mitglieder der Guerillagruppe M-19 mehrere Personen als Geiseln festhielten. Im September wurde der ehemalige Direktor des zivilen kolumbianischen Geheimdienstes (Departamento Administrativo de Seguridad – DAS), Jorge Noguera, wegen der im Jahr 2004 erfolgten Tötung des Wissenschaftlers Alfredo Correa de Andreis und wegen seiner Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt.

Auch wenn diese Fälle bedeutsam waren, so blieben sie doch die Ausnahme, und Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen war weiterhin die Regel. In Kolumbien beispielsweise entzog sich María del Pilar Hurtado, die ebenfalls dem DAS als Direktorin vorgestanden hatte, weiterhin der Justiz. Sie war in einen Skandal im Zusammenhang mit illegaler Telefonüberwachung und Observation sowie Drohungen gegen politische Gegner des ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe verwickelt. Im Jahr 2010 war ihr in Panama Asyl gewährt worden.

In Mexiko kamen die Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen der in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren verübten schweren Menschenrechtsverletzungen nicht voran. Der Oberste Gerichtshof entschied jedoch, dass die vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Mexiko gefällten Urteile bindend seien. Dazu gehörte auch die Auflage, dass Fälle mutmaßlich von Militärpersonal verübter Menschenrechtsverletzungen der zivilen Gerichtsbarkeit übergeben werden müssen.

Im Bereich der internationalen Strafverfolgung gab es nicht überall Fortschritte. So nahm die kanadische Regierung den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush nicht fest, als er im Oktober in die Provinz British-Columbia reiste, obwohl es eindeutige Beweise dafür gab, dass er für Völkerrechtsverbrechen, darunter Folter, verantwortlich war. Hingegen lieferte Frankreich im Dezember das ehemalige De-facto-Staatsoberhaupt Manuel Noriega an Panama aus, wo er in Abwesenheit wegen der Ermordung politischer Gegner und anderer Verbrechen verurteilt worden war.

Das interamerikanische Menschenrechtssystem

Das interamerikanische System, und ganz besonders die Interamerikanische Menschenrechtskommission, geriet unter anhaltende Kritik von Seiten einiger Staaten. So rief z.B. Brasilien seinen Botschafter bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ab, weil die Kommission Brasilien aufgefordert hatte, das Genehmigungsverfahren für das Staudammprojekt Belo Monte so lange auszusetzen, bis die davon betroffenen indigenen Gemeinschaften adäquat konsultiert worden seien. Beunruhigenderweise demonstrierte der Generalsekretär der OAS, José Miguel Insulza, offene Unterstützung für die Position Brasiliens und rief die Kommission dazu auf, ihre Entscheidung im Fall Belo Monte zu überdenken.

Daraufhin modifizierte die Interamerikanische Kommission die angeordneten Schutzmaßnahmen und zog ihre Aufforderung an Brasilien zurück, das Genehmigungsverfahren auszusetzen, bis die Konsultationen stattgefunden haben.

Ecuador, Peru und Venezuela äußerten gleichfalls Kritik an der Kommission. Sie warfen ihr vor, ihr Mandat zu überschreiten und sich in ihre souveränen Rechte einzumischen. Die Kritik Ecuadors und Venezuelas zielte auf das Büro des Sonderberichterstatters über Meinungsfreiheit ab, während Peru scharfe Kritik an der Entscheidung der Kommission übte, den Fall mutmaßlicher außergerichtlicher Hinrichtungen während der im Jahr 1997 durchgeführten Befreiungsaktion von 71 Geiseln (Operation Chavín de Huántar) an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu übergeben.

Während der zweiten Hälfte des Jahres 2011 berieten die Mitgliedstaaten der OAS weiterhin über mögliche Reformen des interamerikanischen Menschenrechtssystems. Die Debatte schloss mit der Herausgabe eines Berichts ab, den der Ständige Rat der OAS zu Beginn des Jahres 2012 beraten soll. Obwohl die im Bericht enthaltenen Empfehlungen als Versuch zur Stärkung des Systems beschrieben wurden, könnten einige der vorgeschlagenen Maßnahmen in Wahrheit dazu führen, die Unabhängigkeit und Effektivität des interamerikanischen Menschenrechtssystems zu untergraben. Die Arbeit der Kommission und ihrer Berichterstatter könnte besonders hart davon betroffen sein.

Öffentliche Sicherheit und Menschenrechte

Viele Regierungen machten sich auch 2011 die berechtigten Sorgen über die öffentliche Sicherheit und die hohe Verbrechensquote zunutze, um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen oder zu ignorieren, die von ihren Sicherheitskräften bei Operationen gegen kriminelle Aktivitäten oder bewaffnete Gruppen verübt wurden.

In ihrem Kampf gegen die Drogenkartelle verschloss die mexikanische Regierung die Augen vor den vielen Berichten über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Verschwindenlassen, rechtswidrige Tötungen und exzessive Gewaltanwendung durch die Armee und in zunehmendem Maße auch durch Marinesoldaten. Mehr als 12000 Personen wurden bei Gewalttaten getötet, die kriminellen Organisationen zugeschrieben wurden, und Präsident Felipe Calderón setzte etwa 50000 Soldaten des Heeres und der Marine weiterhin zur Durchführung von Polizeiaufgaben ein. Es gab Hinweise darauf, dass Angehörige von Polizei und Sicherheitskräften bei der Verschleppung und Tötung mutmaßlicher Mitglieder von rivalisierenden kriminellen Organisationen und bei anderen Straftaten mit kriminellen Organisationen zusammenarbeiteten. Die Regierung behauptete weiterhin, dass Verstöße nur ausnahmsweise vorkämen und die Täter zur Verantwortung gezogen würden, doch gab es im Jahr 2011 nur einen einzigen Fall, bei dem Militärangehörige vor Gericht gestellt wurden.

Auch in einigen anderen Ländern der Region wurde Militärpersonal zur Durchführung von Polizeiaufgaben eingesetzt, wenn auch in geringerem Maße. Dazu gehörten die Dominikanische Republik, El Salvador, Guatemala, Honduras sowie Venezuela, wo Präsident Hugo Chávez Truppen der Nationalgarde auf die Straße beorderte, um gegen die weit verbreitete Gewaltkriminalität vorzugehen.

Angesichts des hohen Ausmaßes an Gewaltkriminalität war die Vorgehensweise der Polizei in Brasilien weiterhin von Diskriminierung, Menschenrechtsverstößen, Korruption und Polizeieinsätzen nach militärischem Muster gekennzeichnet. Während einige Projekte der öffentlichen Sicherheit begrenzte Erfolge bei der Reduzierung des Ausmaßes an Gewalt erzielten, wurden die von der brasilianischen Regierung in die Wege geleiteten Reformen der öffentlichen Sicherheit durch drastische Etatkürzungen und einen Mangel an politischem Durchsetzungswillen untergraben. Bewohner von Slums waren weiterhin der Gewalt krimineller Banden und Willkürmaßnahmen der Polizei ausgesetzt. Häufig wurden sie von den Ordnungskräften als Tatverdächtige behandelt. In Rio de Janeiro nahm die Macht der Milizen (milícias) weiter zu. Diese kriminellen Banden, denen aktive und ehemalige Ordnungskräfte angehörten, bauten durch Gewaltanwendung und Erpressung ihre durch illegale finanzielle Aktivitäten und die Bildung politischer Machtbasen aufrechterhaltene Herrschaft über viele der ärmsten Wohnviertel von Rio de Janeiro weiter aus. Der Anschlag auf die Richterin Acioli machte deutlich, über welch langen Arm diese kriminellen Banden verfügen und von welcher Machtgewissheit sie durchdrungen sind.

In der Dominikanischen Republik verübte die Polizei bei der Umsetzung der sogenannten Politik der harten Hand (Política de mano dura) im Kampf gegen die Kriminalität schwere Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Festnahmen, Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung sowie rechtswidrige Tötungen und Verschwindenlassen. Es gab Hinweise darauf, dass die Polizei in einigen Fällen eine Strategie des Schusswaffengebrauchs mit Tötungsabsicht (shoot-to-kill policy) anwandte, anstatt verdächtige Personen, von denen viele unbewaffnet waren, festzunehmen.

Bewaffneter Konflikt

In Kolumbien fügte der seit langem andauernde interne bewaffnete Konflikt der Zivilbevölkerung im ganzen Land weiterhin unermessliches Leid zu. Insbesondere die auf dem Lande lebenden indigenen Bevölkerungsgruppen, Afro-Kolumbianer und Kleinbauerngemeinschaften waren durch die Verletzung ihrer Menschenrechte infolge der Kampfhandlungen beeinträchtigt.

Tausende von ihnen wurden dazu gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Sowohl Guerillagruppen als auch Paramilitärs und Sicherheitskräfte, die in manchen Fällen im stillen Einvernehmen handelten, waren für schwere Menschenrechtsverstöße und Verletzungen des humanitären Völkerrechts verantwortlich.

Einige der von der Regierung in Angriff genommenen legislativen Maßnahmen wie das Gesetz über Entschädigungen für Opfer und Landrückgabe waren wichtige erste Schritte im Hinblick auf die Anerkennung des Rechts einiger der Opfer auf Wiedergutmachung und die Rückgabe eines Teils der während des Konflikts rechtswidrig angeeigneten Millionen Hektar Land. Das Gesetz schloss jedoch viele Opfer aus. Auch die zunehmenden Bedrohungen und Tötungen von Menschenrechtsverteidigern, insbesondere derjenigen, die sich für die Landrückgabe einsetzten, weckten Zweifel an der Fähigkeit der Regierung, ihr Versprechen, Land an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben, einzulösen.

Das Engagement der kolumbianischen Regierung für die Menschenrechte und ihr Kampf gegen die Straflosigkeit wurden durch Pläne, die Zuständigkeiten der Militärgerichtsbarkeit zu erweitern, in Zweifel gezogen. Eine derartige Maßnahme könnte dazu führen, dass sich Angehörige der Sicherheitskräfte ihrer Bestrafung für Menschenrechtsverletzungen entziehen.

Zudem kritisierten Präsident Juan Manuel Santos und der Oberkommandierende der Streitkräfte die Verurteilung mehrerer hochrangiger Armeeoffiziere wegen Menschenrechtsverletzungen.

Antiterror- und Sicherheitsmaßnahmen

Zum Ende des Jahres 2011, fast zwei Jahre nach Ablauf der Frist, die US-Präsident Barack Obama zur Schließung des Haftzentrums Guantánamo gesetzt, aber nicht eingehalten hatte, wurden dort noch immer 171 Männer gefangen gehalten.

Die Hoffnung, dass die US-Regierung ihre im Jahr 2009 angekündigte Entscheidung in die Tat umsetzen würde, fünf Gefangene, die beschuldigt wurden, an den Angriffen des 11. September 2001 beteiligt gewesen zu sein, vor ordentliche Bundesgerichte zu stellen, wurde zunichte gemacht, als der Justizminister im April 2011 verkündete, dass gegen die fünf Tatverdächtigen nunmehr Verfahren vor einer Militärkommission stattfinden würden. Die Regierung machte keinen Hehl aus ihrer Absicht, Todesurteile für diese fünf Personen zu fordern. Im September rückte in einem anderen in der Zuständigkeit der Militärkommissionen liegenden Fall die Möglichkeit der Verhängung der Todesstrafe näher, als die dem saudi-arabischen Staatsbürger Abd al Rahim al-Nashiri vorgeworfenen Straftaten als Verbrechen deklariert wurden, die mit der Todesstrafe geahndet werden können.

Es herrschte weiterhin Straflosigkeit für die Menschenrechtsverletzungen, die während der Amtszeit der Vorgängerregierung im Rahmen des CIA-Programms für außerordentliche Überstellungen und Geheimgefängnisse verübt worden waren. Im Juni 2011 gab der Justizminister bekannt, dass mit Ausnahme von zwei Todesfällen im Gewahrsam keine weiteren Ermittlungen im Zusammenhang mit diesen Inhaftierungen gerechtfertigt seien. Das geschah, obwohl Folter und Verschwindenlassen erwiesenermaßen wesentliche Komponenten des Geheimprogramms waren und sich unter den Opfern auch die Gefangenen befanden, gegen die gegenwärtig unfaire Gerichtsverfahren vor den Militärkommissionen durchgeführt werden. Eine Verurteilung könnte zu ihrer Hinrichtung führen.

Indigene Völker

Obwohl einige Fortschritte in der Region zu verzeichnen waren, gaben Verletzungen der Menschenrechte von Angehörigen indigener Völker weiterhin Anlass zu großer Besorgnis.

In vielen Fällen wurde den indigenen Gruppen ihr Recht auf angemessene Konsultation sowie freiwillige, vorherige und in Kenntnis der Sachlage erteilte Zustimmung verweigert, wenn groß angelegte Entwicklungsprojekte, u.a. Vorhaben der Rohstoffindustrie, geplant wurden, die Auswirkungen auf sie haben. Peru erließ im Jahr 2011 ein bahnbrechendes Gesetz, das die Konsultation der indigenen Völker zwingend vorschreibt, bevor Entwicklungsprojekte auf ihren traditionellen Siedlungsgebieten in Angriff genommen werden können. Das blieb jedoch ein Ausnahmefall. Trotz der Tatsache, dass alle Staaten in der Region 2007 die UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hatten, wurden die darin verbrieften Rechte bei Weitem nicht respektiert.

Die Nichtbeachtung der Rechte indigener Gemeinschaften gefährdete nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern hatte auch zur Folge, dass indigene Gemeinschaften bedroht, schikaniert, vertrieben, angegriffen oder getötet und Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen wurden, da die Gier nach Ausbeutung der Bodenschätze in ihren Siedlungsgebieten immer mehr zunahm. In Brasilien, Kolumbien, Guatemala und Mexiko wurden Angehörige indigener Völker von ihrem Land vertrieben, oft unter Gewaltanwendung. Aus Peru und Bolivien trafen Meldungen ein, dass gegen Demonstrierende, die ihre Stimme für die Rechte der Indigenen und gegen die Entwicklungsprojekte erhoben, exzessive Gewalt angewandt wurde. In Ecuador und Mexiko gaben fadenscheinige Anklagen gegen Indigenensprecher Anlass zu Besorgnis.

Es gab noch weitere Anzeichen dafür, dass die Regierungen die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht ernst nahmen oder keinen politischen Willen zeigten, die über Jahrzehnte tiefverwurzelte Diskriminierung zu beenden. Wie schon erwähnt, forderte die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte im April Brasilien auf, das Genehmigungsverfahren für den Bau des Staudamms Belo Monte so lange auszusetzen, bis die davon betroffenen indigenen Gemeinschaften vollständig und effektiv konsultiert worden seien. Dazu gehöre auch ihr Zugang zu sozialen und ökologischen Einschätzungen der Folgen des Projekts in für sie verständlichen Sprachen. Zudem verlangte die Kommission, mit der Genehmigung des Baus so lange zu warten, bis Maßnahmen eingeleitet worden seien, um die in freiwilliger Isolierung lebenden indigenen Gemeinschaften zu schützen. Brasilien wandte sich vehement gegen diese Schutzmaßnahmen und erreichte, dass sie von der Kommission abgeschwächt wurden.

Nach wochenlangen Protesten entschied der Präsident Boliviens, den Bau einer Straße durch das Indigene Territorium und den Nationalpark Isoboro-Sécure (Territorio Indígena y Parque Nacional Isoboro-Sécure – TIPNIS) einzustellen. Bei den Protesten waren zahlreiche Personen verletzt worden, als die Sicherheitskräfte Tränengas und Schlagstöcke einsetzten, um ein behelfsmäßiges Lager der Demonstrierenden zu zerstören. Die indigenen Bewohner argumentierten, dass die Straße in Verletzung der Umweltschutzgesetze und der verfassungsmäßigen Garantien auf vorherige Konsultation geplant worden sei.

Im August stellte ein vom kanadischen Bundesrechnungshof erstellter Prüfbericht fest, dass 39% des Wassersystems in den Gemeinschaften der First Nations schwerwiegende Mängel aufwiesen. 73% des Trinkwasser- und 65% des Abwassersystems stellen danach mittlere oder hohe Gesundheitsrisiken dar.

Rechte von Frauen und Mädchen

Die Staaten in der Region stellten den Schutz der Frauen und Mädchen vor Vergewaltigung, Bedrohung und Tötung nicht in den Mittelpunkt ihrer politischen Programme. Die mangelhafte Umsetzung von Gesetzen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gab auch 2011 zu großer Besorgnis Anlass. Zudem weckte der Mangel an Ressourcen zur Untersuchung und Verfolgung dieser Verbrechen Zweifel daran, ob die Regierungen tatsächlich gewillt waren, entschieden gegen diese Straftaten vorzugehen. Da die für diese Verbrechen Verantwortlichen immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, verfestigte sich die Straflosigkeit für geschlechtsspezifische Gewalt in vielen Ländern noch weiter und trug zur Entwicklung eines gesellschaftlichen Klimas bei, in dem Gewalt gegen Frauen und Mädchen toleriert wurde.

Die Verletzung der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen blieb weit verbreitet und hatte schwerwiegende Folgen für ihr Leben und ihre Gesundheit. In El Salvador, Chile und Nicaragua waren Schwangerschaftsabbrüche auch 2011 unter allen Umständen verboten. Das Verbot galt auch für Frauen und Mädchen, die als Folge von Vergewaltigung schwanger geworden waren oder in deren Schwangerschaft lebensbedrohende Komplikationen auftraten. Diejenigen, die versuchten, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen oder ihn durchführten, riskierten lange Gefängnisstrafen.

In anderen Ländern war der Zugang zu Einrichtungen für sichere Schwangerschaftsabbrüche zwar gesetzlich garantiert, wurde aber in der Praxis durch langwierige juristische Verfahren verwehrt und damit fast unmöglich gemacht.

Das galt insbesondere für die Frauen und Mädchen, die nicht über die finanziellen Mittel verfügten, um in privaten Einrichtungen einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen.

Ein Problem war auch weiterhin die unzureichende Verfügbarkeit von empfängnisverhütenden Mitteln und Informationen über sexuelle und reproduktive Themen. Davon waren in dieser Weltregion insbesondere die Frauen und Mädchen betroffen, die marginalisiert am Rand der Gesellschaft leben.

Migranten: sichtbare Opfer, unsichtbare Rechte

Hunderttausenden Migranten mit regulärem und ohne regulären Aufenthaltsstatus wurde 2011 in einer Reihe von Ländern gesetzlicher Schutz verweigert.

In Mexiko entdeckte man Hunderte von Leichen in geheimen Gräbern. Einige davon wurden als die sterblichen Überreste verschleppter Migranten identifiziert. Die Familien von "verschwundenen" Migranten aus Zentralamerika führten landesweit Protestmärsche durch, um Druck auf die Behörden auszuüben, Maßnahmen zur Aufklärung des Verbleibs ihrer Angehörigen zu ergreifen. Gleichzeitig wollten sie damit auf das Schicksal vieler Migranten aufmerksam machen. Migranten aus Mittelamerika, die zu Zehntausenden durch Mexiko zogen, wurden von kriminellen Banden verschleppt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Das geschah häufig in Komplizenschaft mit Behördenvertretern. Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus waren wegen ihrer Angst vor Repressalien und Ausweisung selten in der Lage, die schwerwiegenden Übergriffe, die sie erleiden mussten, zur Anzeige zu bringen.

Personen, die die Rechte von Migranten verteidigten, wurden in Mexiko in bisher beispielloser Weise angegriffen, insbesondere diejenigen, die für das Herbergsnetzwerk arbeiteten, das Migranten humanitäre Hilfe gewährt.

Sowohl Migranten mit regulärem als auch ohne regulären Aufenthaltsstatus erlitten in den USA entlang der Grenze zu Mexiko Diskriminierung durch die Bundespolizei, bundesstaatliche oder lokale Ordnungskräfte und wurden speziellen Kontrollen auf der Grundlage von Herkunft und äußeren Merkmalen (Profiling) unterzogen. Die Migranten waren auch Diskriminierung ausgesetzt, wenn sie versuchten, Zugang zu Justiz und gesetzlichem Schutz zu erhalten, und sie stießen auf Hindernisse, wenn sie Einrichtungen des Bildungssystems und der Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen wollten. Solche Hindernisse waren z.B. die gängige Praxis, Migranten herauszugreifen, um sie besonderen Überprüfungen zu unterziehen, und auch die Drohung, sie den Einwanderungsbehörden zu melden. Vorschläge für neue migrantenfeindliche Gesetze brachten einige Schüler dazu, die Schule aus Furcht vor einer möglichen Verhaftung ihrer Eltern abzubrechen. Gegen die migrantenfeindlichen Gesetze in Georgia, Indiana, South Carolina und Utah wurden vor Bundesgerichten Anfechtungsklagen erhoben.

In der Dominikanischen Republik wurden haitianische Migranten mit regulärem und ohne regulären Aufenthaltsstatus Opfer von Menschenrechtsverletzungen, darunter Massenabschiebungen und gewaltsame rechtswidrige Abschiebungen, bei denen Dominikanern haitianischer Herkunft weiterhin ihr Recht auf die dominikanische Staatsbürgerschaft vorenthalten wurde. Es gab Berichte, dass während der Abschiebungen Menschen geschlagen und Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Mehrere Staaten ignorierten den Aufruf der Vereinten Nationen, Abschiebungen nach Haiti aus humanitären Gründen zu stoppen. Die Bahamas gehörten zu den Ländern, die trotz der anhaltenden humanitären Krise durch das Erdbeben und den Ausbruch der Cholera im Jahr 2010 Menschen nach Haiti abschoben.

Todesstrafe

43 Gefangene wurden im Jahr 2011 in den USA hingerichtet. Alle starben durch eine tödliche Injektion. Damit stieg die Gesamtzahl der Hinrichtungen, die seit der Aufhebung des Moratoriums durch den Obersten Gerichtshof der USA im Jahr 1976 vollstreckt worden waren, auf 1277. Positiv zu vermerken ist jedoch, dass im März Illinois als 16. Bundesstaat der USA die Todesstrafe abschaffte und der Gouverneur von Oregon im November ein Hinrichtungsmoratorium in diesem Bundesstaat verhängte und dazu aufrief, über die Anwendung der Todesstrafe nachzudenken.

Troy Davis war einer der Menschen, die im Jahr 2011 hingerichtet wurden. Das Todesurteil wurde trotz erheblicher Zweifel an der Stichhaltigkeit der Beweise, die zu seiner Verurteilung geführt hatten, im September in Georgia vollstreckt. Seine Schwester Martina Correia, die bis zu ihrem eigenen Tod im Dezember 2011 eine entschlossene und furchtlose Kämpferin gegen die Todesstrafe war, dient über ihren Tod hinaus den vielen Menschen als Vorbild, die sich innerhalb und außerhalb der Region für Menschenwürde und Gerechtigkeit einsetzen.

"Die Todesstrafe ist grauenhaft. Wer sie einsetzt, verleugnet die Menschenwürde. Menschen werden aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe verurteilt und weil sie sich nicht gegen das System wehren können. Ich versuche, den Sprachlosen eine Stimme zu geben. Ich denke nicht, dass ich etwas Besonderes bin, sondern glaube, dass meine Gemeinschaft nicht nur aus den Leuten besteht, die in meiner Straße wohnen, sondern dass ich Teil einer weltweiten Gemeinschaft bin. Und wenn irgendjemand in China oder Uganda oder Nigeria oder Georgia oder Texas getötet wird, stirbt auch immer ein Teil von uns."

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